Gerne fasse ich das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_680/2024 vom 20. August 2025) detailliert zusammen:
Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils 6B_680/2024
I. Einleitung und Sachverhalt
Das Urteil des Bundesgerichts betrifft die Beschwerde des Ministero Pubblico des Kantons Tessin gegen einen teilweisen Freispruch des Beschwerdegegners A._ durch das Appellations- und Revisionsgericht des Kantons Tessin (CARP) vom 21. August 2024. A._ war in erster Instanz von der Corte delle assise criminali am 15. Dezember 2021 wegen gewerbsmässigen Betrugs, mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfachen Erlangens einer falschen Beurkundung und mehrfacher Misswirtschaft verurteilt worden.
Die Anklagepunkte bezüglich der Misswirtschaft (Art. 165 StGB) betrafen A._'s Rolle als faktisches Organ von fünf Gesellschaften (M._ SA, H._ SA, J._ Sagl, N._ SA und K._ SA), die alle in Konkurs fielen. Ihm wurde vorgeworfen, durch ungenügende Kapitalausstattung, unverhältnismässige Ausgaben, mangelnde Geschäftsführung und Vernachlässigung der Aufsichtspflicht die Überschuldung dieser Gesellschaften verursacht oder verschlimmert zu haben, insbesondere durch das Unterlassen, Sanierungsmassnahmen zu ergreifen oder den Richter gemäss Art. 725 Abs. 2 aOR (alter Obligationenrecht) zu benachrichtigen.
Die erste Instanz verurteilte A._ wegen Misswirtschaft in Bezug auf alle fünf Gesellschaften. Das CARP bestätigte zwar die Verurteilungen wegen Betrugs, Urkundenfälschung und Erlangens einer falschen Beurkundung sowie die Misswirtschaft für die H._ SA. Es sprach A._ jedoch von der Anklage der Misswirtschaft bezüglich der J._ Sagl, M._ SA, K._ SA und N.__ SA frei. Gegen diesen teilweisen Freispruch sowie die damit verbundenen Kostenentscheide richtet sich die Beschwerde des Ministero Pubblico an das Bundesgericht.
II. Rechtliche Grundlagen (Art. 165 StGB)
Das Bundesgericht rekapituliert die rechtlichen Grundlagen des Tatbestands der Misswirtschaft gemäss Art. 165 Ziff. 1 StGB:
- Tatbestandselemente: Bestraft wird der Schuldner (oder das Organ bzw. der faktische Geschäftsführer einer juristischen Person gemäss Art. 29 lit. a und d StGB), der durch schlechte Geschäftsführung – insbesondere durch ungenügende Kapitalausstattung, unverhältnismässige Ausgaben, gewagte Spekulationen, leichtfertig gewährte oder benutzte Kredite, Verschleuderung von Vermögenswerten, grobe Nachlässigkeit in der Berufsausübung oder in der Vermögensverwaltung – seine Überschuldung herbeiführt oder verschlimmert, seine Insolvenz herbeiführt oder seine Lage bei Kenntnis der Insolvenz verschlimmert.
- Objektive Strafbarkeitsbedingung: Die Strafe setzt voraus, dass der Konkurs eröffnet oder ein Verlustschein ausgestellt wird.
- Handlung oder Unterlassung: Misswirtschaft kann in einem Tun oder Unterlassen bestehen. Ein Unterlassen ist nur strafbar, wenn eine rechtliche Handlungspflicht besteht.
- Gravierende kaufmännische Fehlentscheidungen: Art. 165 StGB erfasst nur schwere, wirtschaftlich relevante Fehlentscheidungen.
- Anzeigepflicht bei Überschuldung: Eine grobe Nachlässigkeit im Sinne von Art. 165 Ziff. 1 StGB stellt insbesondere das Unterlassen der richterlichen Anzeige gemäss Art. 725 Abs. 2 aOR (bzw. Art. 725b OR n.F.) bei Überschuldung dar (BGE 144 IV 52 E. 7.3).
- Sorgfalts- und Buchführungspflicht: Geschäftsführer und Verwaltungsräte (Art. 717 Abs. 1 OR) müssen ihre Aufgaben mit aller Sorgfalt erfüllen und die Interessen der Gesellschaft in guten Treuen wahren. Die Missachtung der Buchführungspflicht (Art. 957 ff. OR) und das Unterlassen der Anzeige bei Überschuldung können als Misswirtschaft gelten (BGE 6B_492/2009 E. 2.2).
- Rangrücktritt: Ein Rangrücktritt beseitigt die Überschuldung nicht vollständig. Er muss in der Regel von Sanierungsmassnahmen begleitet sein. Ohne Sanierungsaussichten entbindet er nicht von der Anzeigepflicht; eine Aufschiebung ist nur für eine kurze Zeitspanne zulässig (BGE 6B_1279/2018 E. 2.2.1).
- Ungenügende Kapitalausstattung: Dieser Aspekt von Art. 165 Ziff. 1 StGB erfasst Fälle der Gründung einer Gesellschaft mit unzureichenden Mitteln, z.B. betrügerische Gründung, Überbewertung von Sacheinlagen, Erwerb einer Mantelgesellschaft ohne anschliessende Sanierung oder die fiktive Liberierung des Aktienkapitals. Hierbei steht das Kapital der Gesellschaft von Anfang an nicht tatsächlich zur Verfügung. Spätere Kapitalverluste fallen hingegen unter Art. 725 ff. OR (BGE 6B_1103/2017 E. 1.2.1).
III. Analyse der Freisprüche und Begründung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht kritisiert die Argumentation des CARP in Bezug auf die vier freigesprochenen Anklagepunkte wegen Misswirtschaft und beurteilt sie als rechtsfehlerhaft:
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J.__ Sagl (Anklagepunkt 4.2):
- CARP-Argumentation: Der Freispruch erfolgte aufgrund der Unklarheit, ob ein in den Bilanzen ausgewiesener Kontokorrent-Kredit eines Gesellschafters rangrücktrittig war. Bei einem Rangrücktritt hätte zwar ein Kapitalverlust, aber keine Überschuldung bestanden. Da dies nicht eindeutig feststand, wurde A.__ freigesprochen.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht rügt, dass das CARP diese Annahme auf einer falsifizierten Buchhaltung aufbaute. Es war festgestellt worden, dass A._ die Gesellschaft zur Begehung von Betrug gründete, fiktive Arbeitsverträge schloss und die Buchhaltung (z.B. durch fiktive Bareinlagen für Lohnzahlungen) manipulierte. In dieser Situation hat A._ die Gesellschaft nicht sorgfältig geführt (Art. 812 OR), ihre Interessen nicht in guten Treuen gewahrt und die Buchführungspflichten (Art. 957 ff. OR) nicht eingehalten. Ein Rangrücktritt, der auf solch unzuverlässigen Konten basiert und ohne echte Sanierungs- oder Geschäftstätigkeit erfolgte, hätte die Überschuldung nicht beseitigt. Selbst A.__ räumte ein, dass keine Sanierungsaussichten bestanden. Der Freispruch verstösst daher gegen Art. 165 StGB.
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M.__ SA (Anklagepunkt 4.3):
- CARP-Argumentation: Die CARP stellte fest, dass die Gesellschaft gemäss Revisionsberichten und Steuererklärungen trotz Verlusten zunächst keinen Kapitalverlust aufwies. Sie erachtete jedoch die Bewertung einer Beteiligung an J.__ Sagl als überhöht. Ein weiterer Faktor war ein Kontokorrent-Kredit auf der Aktivseite der Bilanz, dessen Einbringlichkeit als zweifelhaft und nicht abschliessend geklärt wurde, was zum Freispruch führte.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht hält fest, dass die CARP verbindlich festgestellt hatte, dass das Aktienkapital der M._ SA (CHF 100'000) nur scheinbar liberiert wurde und nicht frei zur Verfügung stand, um die Kapitalisierungsvorschriften zu umgehen. Dieser Aspekt der "ungenügenden Kapitalausstattung" gemäss Art. 165 Ziff. 1 StGB wurde vom CARP nicht berücksichtigt. Die Gesellschaft wurde zudem von A._ für Betrügereien genutzt. Die Überbewertung der Beteiligung an der bereits überschuldeten J._ Sagl hätte die finanzielle Lage der M._ SA weiter verschärft. Auch wenn die Identität des Kontokorrent-Schuldners nicht eindeutig geklärt wurde, wären die fehlende anfängliche Kapitalausstattung, das Fehlen jeglicher Sanierungsaussichten, die Mängel in der Buchführung und die wiederholten Nachlässigkeiten in der Geschäftsführung als Faktoren der Misswirtschaft zu berücksichtigen gewesen. Der Freispruch basiert auf einer unvollständigen Tatsachenwürdigung und verletzt Art. 165 StGB.
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K.__ SA (Anklagepunkt 4.4):
- CARP-Argumentation: Die CARP sprach A.__ frei, weil die Gesellschaft keine Jahresabschlüsse oder Steuererklärungen für die Jahre 2011 und 2012 hatte. Somit konnte der Zeitpunkt, ab dem die Pflichten gemäss Art. 725 OR entstanden wären, nicht festgestellt werden.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht beanstandet, dass die CARP die Tatsache ignorierte, dass das Gesellschaftskapital bereits kurz nach der Gründung fast vollständig entzogen wurde, womit die K._ SA von Anfang an faktisch ungenügend kapitalisiert war. Diese Umstände sind für Art. 165 StGB relevant. Es war unbestritten, dass die Gesellschaft in Konkurs ging und A._ weder Sanierungsmassnahmen ergriff noch den Richter informierte. Auch die mangelnde Buchführung selbst stellt eine Sorgfaltspflichtverletzung (Art. 717 Abs. 1 OR) dar. Die CARP hätte alle diese Umstände in einer Gesamtwürdigung berücksichtigen müssen.
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N.__ SA (Anklagepunkt 4.5):
- CARP-Argumentation: Wie bei K._ SA sprach die CARP A._ frei, weil mangels Steuererklärungen und Bilanzen nicht feststellbar war, wann die Pflichten gemäss Art. 725 OR für A.__ entstanden wären.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht erachtet diese Begründung als unzureichend und kritisiert eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG). Die CARP beschränkte sich ausschliesslich auf das Fehlen von Bilanzen und berücksichtigte nicht eine Vielzahl weiterer relevanter Aspekte: die Art des Erwerbs der Mantelgesellschaft und eine mögliche fehlende Kapitalausstattung, die Fälschung von Buchhaltungsdaten, die Verletzung der Buchführungspflicht sowie allgemeine Managementdefizite, die eine Verletzung der Sorgfaltspflichten (Art. 717 Abs. 1 OR) darstellen können. Das Bundesgericht verweist auf die Ausführungen zu K.__ SA und hält fest, dass eine umfassende Würdigung aller relevanten Fakten im Sinne von Art. 165 StGB erforderlich gewesen wäre.
IV. Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des Ministero Pubblico teilweise gut. Die Dispositive Nr. 3 (bezüglich der Freisprüche für die Misswirtschaft in den Anklagepunkten 4.2, 4.3, 4.4 und 4.5) sowie die damit zusammenhängenden Kostenentscheide (Nr. 7, 9 und 10.2) des angefochtenen Urteils werden aufgehoben. Die Sache wird zur Neubeurteilung dieser Anklagepunkte und der daraus resultierenden Kostenfolgen an die kantonale Instanz zurückgewiesen.
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen, da seine Beschwerdeantwort unzulässigerweise den Streitgegenstand ausweitete. Es werden ihm jedoch keine Gerichtskosten auferlegt, da er als Teilnehmer am Verfahren nach Beschwerde der Staatsanwaltschaft zu betrachten ist und seine finanzielle Situation dies rechtfertigt.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht hat die Freisprüche des Appellationsgerichts des Kantons Tessin für A.__ von vier Anklagepunkten wegen Misswirtschaft aufgehoben. Das Gericht rügte, dass das kantonale Gericht wesentliche Fakten – insbesondere die von Anfang an ungenügende oder fiktive Kapitalausstattung der Gesellschaften, die Fälschung der Buchhaltung, die Verletzung von Buchführungs- und Sorgfaltspflichten sowie das Fehlen von Sanierungsaussichten bei Gesellschaften, die primär zu Betrugszwecken gegründet wurden – bei seiner Würdigung nicht oder nur unzureichend berücksichtigt hatte. Diese Umstände sind entscheidend für die Beurteilung des Tatbestands der Misswirtschaft gemäss Art. 165 StGB. Das Bundesgericht betonte, dass eine Rangrücktrittserklärung bei manipulierter Buchführung und fehlenden Sanierungsaussichten die Anzeigepflicht bei Überschuldung nicht entbindet. Das Urteil wird zur umfassenden Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.