Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1041/2023 vom 15. August 2025

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Im vorliegenden Urteil 6B_1041/2023 vom 15. August 2025 befasst sich das Schweizerische Bundesgericht mit der Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern gegen den Freispruch von A.__ vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens gemäss Art. 129 StGB. Im Zentrum der rechtlichen Würdigung steht das Tatbestandselement der Skrupellosigkeit.

I. Sachverhaltliche Ausgangslage

A._ fuhr mit seinem Renault, in dem sich seine Grossmutter und zwei Kinder befanden, als er auf die Velofahrer B._ und C._ traf. B._ schlug im Vorbeifahren absichtlich auf den linken Aussenspiegel des Renault, wodurch dieser einklappte und das Spiegelglas herausfiel. B._ tat dies aus Wut über A._'s, aus seiner Sicht, mangelnde Rücksichtnahme. Nachdem B._ und C._ weiterfuhren, fuhr A._ ihnen im Rückwärtsgang über eine Strecke von 245-282 Metern mit ca. 24 km/h hinterher, um B._ zur Rede zu stellen. Aufgrund eingeschränkter Sicht (Kindersitze, Schrägheck, kaputter Aussenspiegel) und einer Fehleinschätzung der Distanz konnte A._ nicht rechtzeitig bremsen und kollidierte mit dem Velo von B._. B._ wurde vier Meter weit geschoben und zog sich Prellungen und Schürfwunden zu, stand jedoch nach kurzer Zeit wieder auf und griff A._ körperlich an.

Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland und in der Folge das Obergericht des Kantons Bern sprachen A.__ vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens frei, verurteilten ihn jedoch wegen versuchter schwerer Körperverletzung und grober Verkehrsregelverletzung.

II. Rügen der Beschwerdeführerin (Generalstaatsanwaltschaft)

Die Beschwerdeführerin beantragt, A.__ sei wegen Gefährdung des Lebens zu verurteilen. Sie kritisiert die Verneinung der Skrupellosigkeit durch die Vorinstanz:

  1. Krasses Missverhältnis: Das Missverhältnis zwischen dem Zweck, B.__ zur Rede zu stellen, und dem Mittel, ihn waghalsig zu verfolgen, sei entgegen der Vorinstanz "vorbehaltlos krass" und das Vorgehen skrupellos.
  2. Eigenes Fehlverhalten als Ursache: Die Vorinstanz übersehe, dass A._ selbst die Ursache der Eskalation gesetzt habe, indem er gegenüber B._ nicht dieselbe Vorsicht walten liess wie gegenüber zuvor passierten Velofahrern. Dies mache A.__'s Empörung unbegründet und sein Motiv gänzlich missbilligenswert.
  3. Verfolgungszweck: Die Verfolgungsjagd hätte aller Voraussicht nach nicht zum Ziel geführt.
  4. Verletzungs- vs. Gefährdungsdelikt: Das Beispiel der Vorinstanz, A._ sei nicht auf ein "Niedermähen" von B._ aus gewesen, beziehe sich auf ein Verletzungs- und nicht auf ein Gefährdungsdelikt und sei daher irrelevant.
  5. Unbillige Gründe: A.__ habe die Lebensgefahr aus "nicht zu billigenden Gründen" geschaffen.

III. Erwägungen des Bundesgerichts

1. Definition der Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB)

Das Bundesgericht rekapituliert die Voraussetzungen des Art. 129 StGB: Neben der Verbringung eines Menschen in unmittelbare Lebensgefahr und einem direkt-vorsätzlichen Vorgehen erfordert der Tatbestand ein skrupelloses Handeln.

2. Begriff der Skrupellosigkeit nach ständiger Rechtsprechung

Skrupellos ist ein in schwerem Grad vorwerfbares, rücksichts- oder hemmungsloses Verhalten (BGE 133 IV 1 E. 5.1). Die Skrupellosigkeit wird umso eher bejaht, je grösser die geschaffene Gefahr ist und je weniger die Beweggründe zu billigen sind. Sie liegt stets vor, wenn die Lebensgefahr aus nichtigem Grund geschaffen wird oder deutlich unverhältnismässig erscheint und somit von einer tiefen Geringschätzung des Lebens zeugt (Verweis auf aktuelle Judikatur, z.B. Urteile 6B_696/2024, 6B_637/2023).

3. Prüfung der vorinstanzlichen Würdigung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde, es sei denn, dieser werde als offensichtlich unrichtig (willkürlich) gerügt (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

  • Gefährlichkeit und Unverhältnismässigkeit: Das Bundesgericht bestätigt mit der Vorinstanz und der Beschwerdeführerin, dass das Verfolgungsmanöver von A.__ aufgrund der Rückwärtsfahrt, der Geschwindigkeit, der eingeschränkten Sicht und des fehlenden Abstands sehr gefährlich und in keinem angemessenen Verhältnis zum Zweck stand (Konfrontation wegen geringfügigen Sachschadens).
  • Motive des A.__: Das Bundesgericht erachtet die Beweggründe A._'s, B._ wegen des Schlags auf den Aussenspiegel zur Rede zu stellen und ihn als Schadenverursacher habhaft zu werden (mangels Identifikationsmöglichkeit via Kontrollschild), als an und für sich verständlich. Dies, obwohl der Schaden geringfügig war.
  • Abweisung der Rügen der Beschwerdeführerin:
    • Eigenes Fehlverhalten: Die Beschwerdeführerin vermag nicht darzutun, dass A._ durch eigenes Fehlverhalten die Reaktion B._'s hervorgerufen hätte. Der Sachverhalt lasse nicht auf ein Fehlverhalten A._'s schliessen, da genügend Platz zum Kreuzen vorhanden gewesen sei und die Beschwerdeführerin keine willkürliche Sachverhaltsfeststellung rüge. A._'s Empörung sei daher nicht deplatziert.
    • Zielerreichung der Verfolgung: Die Behauptung, die Verfolgungsfahrt hätte nicht zum Ziel geführt, wird als unüberzeugend abgewiesen, da A._ hätte wenden können oder B._ eventuell doch angehalten hätte. Die Annahme der Vorinstanz, A.__ habe die motorisierte Verfolgung im Rückwärtsgang als einzige valable Möglichkeit gesehen, sei nicht offensichtlich haltlos.
    • Ausschluss der Verletzungsabsicht: Die Vorinstanz durfte die Annahme, A._ sei es nicht darum gegangen, B._ eine Lektion zu erteilen, zu touchieren oder gar "niederzumähen", beibehalten. Dieser Ausschluss einer direkten Verletzungsabsicht spricht gerade nicht gegen die Annahme fehlender Skrupellosigkeit im Kontext eines Gefährdungsdelikts.
    • Vergleichsfälle: Die von der Beschwerdeführerin zitierten Bundesgerichtsentscheide (6S.16/2004 betr. Glasscherbe und 6B_1011/2014 betr. Auffahren Stossstange an Stossstange) sind aufgrund fundamental unterschiedlicher Tatkonstellationen (direkte physische Angriffsabsicht im ersten Fall, kontinuierliche aggressive Verfolgung im zweiten, unklare Motivlage in beiden) mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Sie können daher nicht für die Begründung der Skrupellosigkeit herangezogen werden.
  • Gesamtwürdigung der Skrupellosigkeit: Das Bundesgericht hält fest, dass die Gefährlichkeit und Unverhältnismässigkeit der Verfolgungsfahrt sowie A._'s "nicht unbeträchtliche Hemmungslosigkeit" zwar auf ein skrupelloses Vorgehen hindeuten könnten. Jedoch sprechen die grundsätzlich nachvollziehbaren Beweggründe A._'s (Schadensverursacher habhaft zu werden) gegen das Merkmal der Skrupellosigkeit. A.__ kann nicht vorgeworfen werden, aus nichtigem Grund gehandelt zu haben. Trotz Überreaktion und Hemmungslosigkeit sei sein Vorgehen daher nicht in einem derart qualifizierten Mass vorwerfbar, dass es als skrupellos im Sinne der Rechtsprechung zu beurteilen wäre.

IV. Fazit des Bundesgerichts

Die Vorinstanz durfte in Abwägung sämtlicher Umstände, ohne Bundesrecht zu verletzen, ein skrupelloses Handeln des Beschwerdegegners verneinen und ihn aus diesem Grund vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens freisprechen. Die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft wird abgewiesen.

V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigte den Freispruch vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) und verneinte das Tatbestandselement der Skrupellosigkeit. Es hielt fest, dass trotz der objektiv gefährlichen und unverhältnismässigen Rückwärtsverfolgung eines Velofahrers durch ein Auto und der damit verbundenen Hemmungslosigkeit des Fahrers, dessen Beweggründe als grundsätzlich nachvollziehbar beurteilt wurden. Der Fahrer wollte den Schadenverursacher (der seinen Rückspiegel beschädigt hatte und weiterfuhr) zur Rede stellen, um dessen Personalien zu erfahren, da eine spätere Identifizierung schwierig gewesen wäre. Da die Handlung nicht aus nichtigem Grund erfolgte und keine direkte Verletzungsabsicht nachgewiesen wurde, erachtete das Gericht das Verhalten nicht als derart qualifiziert vorwerfbar, dass es im Sinne der Rechtsprechung als skrupellos zu qualifizieren wäre. Das Urteil betont die Bedeutung einer Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere des Verhältnisses zwischen der geschaffenen Gefahr und der Billigungswürdigkeit der Motive, für die Beurteilung der Skrupellosigkeit.