Zusammenfassung von BGer-Urteil 4A_482/2024 vom 12. August 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils 4A_482/2024 vom 12. August 2025

1. Einleitung und Sachverhalt

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) befasst sich mit der zentralen Frage der Tragweite der sogenannten sozialen Untersuchungsmaxime (Art. 247 Abs. 2 ZPO) in Verfahren des vereinfachten Verfahrens, insbesondere im Arbeitsrecht, wenn eine Partei durch einen berufsmässig qualifizierten Vertreter (Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO) und nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten wird.

Der Rekurrent (Arbeitnehmer) war bei der Intimée (Arbeitgeberin) als Monteur angestellt. Sein Arbeitsvertrag wurde zum 31. Juli 2017 gekündigt. Am 16. Juli 2018 erhob der Arbeitnehmer Klage vor dem Arbeitsgericht des Saanebezirks auf Zahlung von CHF 4'592.33 (später auf CHF 8'000.- erhöht) für nicht bezahlte Wegzeiten und Essensspesen. Er wurde dabei von einer Gewerkschaftssekretärin (einer Nicht-Juristin) vertreten, während die Arbeitgeberin durch einen Rechtsanwalt vertreten war.

Die erste Instanz wies die Klage am 9. Juli 2020 ab, mit der Begründung, der Kläger habe die relevanten Fakten nicht ausreichend dargelegt und nicht bewiesen bzw. keine geeigneten Beweismittel angeboten. Sie vertrat die Ansicht, die Vertreterin des Klägers sei einer Rechtsanwältin gleichzustellen, weshalb die soziale Untersuchungsmaxime abgeschwächt zur Anwendung komme. Das kantonale Gericht hob diesen Entscheid am 26. April 2021 auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die erste Instanz zurück, da das Arbeitsgericht die Fakten vollständig hätte ermitteln müssen, notfalls durch Aufforderung an den Kläger zur Ergänzung seiner Sachbehauptungen und Beweismittel. Nach der erneuten Klageabweisung durch das Arbeitsgericht am 20. April 2023 – wiederum gestützt auf eine attenuierte Untersuchungsmaxime unter Verweis auf neuere Bundesgerichtspraxis – bestätigte das Kantonsgericht Freiburg diesen Entscheid am 25. Juni 2024. Gegen dieses Urteil legte der Arbeitnehmer Beschwerde in Zivilsachen und subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht ein.

2. Prozessgeschichte vor Bundesgericht und Zulässigkeit

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde in Zivilsachen ein, da es eine "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" im Sinne von Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG bejahte. Der Rekurrent hatte dargelegt, dass die Frage der Attenuierung der sozialen Untersuchungsmaxime (Art. 247 Abs. 2 ZPO) bei Vertretung durch einen berufsmässig qualifizierten Vertreter (Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO) von einer charakteristischen Unsicherheit umgeben sei. Es gebe widersprüchliche Lehrmeinungen und auch die bisherige Bundesgerichtspraxis (insbesondere die Urteile 4A_145/2021 und 4A_437/2023) biete keine eindeutige Antwort. Angesichts der praktischen Bedeutung für zahlreiche Verfahren im vereinfachten Verfahren (Miet- und Arbeitsrecht) und der Notwendigkeit einer einheitlichen Rechtsanwendung sei eine Klärung durch das höchste Gericht unumgänglich. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wurde aufgrund des subsidiären Charakters dieses Rechtsmittels als unzulässig erklärt. Die verspätet eingereichte Beschwerdeantwort der Intimée wurde vom Bundesgericht nicht berücksichtigt.

3. Die zentrale Rechtsfrage: Tragweite der sozialen Untersuchungsmaxime (Art. 247 Abs. 2 ZPO)

Der Rekurrent rügte eine Verletzung von Art. 247 Abs. 2 ZPO, welche die soziale Untersuchungsmaxime statuiert. Er argumentierte, diese Maxime sei im vorliegenden Fall nicht zu attenuieren, da seine Vertreterin keine Rechtsanwältin war.

3.1. Ausgangslage und kantonale Argumentation Das Bundesgericht hält fest, dass die soziale Untersuchungsmaxime den Gerichten eine aktive Rolle bei der Sachverhaltsfeststellung zuweist, indem sie die Parteien durch gezielte Fragen zur Ergänzung unzureichender Sachbehauptungen und zur Bezeichnung von Beweismitteln anleiten. Es ist etablierte Praxis, dass diese Maxime abgeschwächt wird, wenn eine Partei durch einen Rechtsanwalt vertreten ist, da erwartet werden kann, dass ein Anwalt die notwendigen Kenntnisse für eine umfassende Prozessführung besitzt.

Die kantonale Vorinstanz hatte im Einklang mit ihrer Rechtsauffassung die Anforderungen an die Gewerkschaftssekretärin des Rekurrenten denjenigen eines Anwalts gleichgestellt und folglich die Untersuchungsmaxime attenuiert.

3.2. Analyse des Bundesgerichts mittels Auslegungsmethoden

Das Bundesgericht prüft die Rechtsfrage anhand der verschiedenen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Historie, Teleologie, Systematik).

  • Wortlaut und Systematik (Art. 247 Abs. 2 ZPO und Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO): Der Wortlaut von Art. 247 Abs. 2 ZPO und die Systematik von Art. 68 Abs. 2 ZPO (der die berufsmässig qualifizierten Vertreter definiert) enthalten keine ausdrückliche Bestimmung zur Attenuierung der Untersuchungsmaxime im Falle der Vertretung durch einen berufsmässig qualifizierten Vertreter. Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO erlaubt den Kantonen, berufsmässig qualifizierte Vertreter vor spezialisierten Miet- und Arbeitsgerichten zuzulassen. Das Bundesgericht stellt klar, dass "berufsmässig qualifizierte Vertreter" Personen sind, die ihre Vertretungsbefugnis aus ihrer beruflichen Erfahrung und Spezialisierung in den Bereichen des Arbeits- oder Mietrechts ableiten.

  • Historische Auslegung: Das Bundesgericht blickt auf die Entstehungsgeschichte von Art. 343 OR und Art. 274d OR sowie der ZPO zurück. Ursprünglich wurde erwogen, Berufsvertreter von einfachen und schnellen Verfahren auszuschliessen. Der Bundesrat stellte in seiner Botschaft zur ZPO klar, dass der Umfang der richterlichen Unterstützung vom sozialen Status, dem Bildungsniveau einer Partei und ihrer allfälligen Anwaltsvertretung abhänge. Er sprach eine Zurückhaltung an, wenn Parteien anwaltlich vertreten sind, und betonte, dass die Untersuchungsmaxime hauptsächlich zum Ausgleich eines ungleichen Kräfteverhältnisses (z.B. Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer) oder bei ungleichen Prozessmitteln (unerfahrene Partei gegenüber anwaltlich vertretener Partei) diene. Bei der Einführung von Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO, welche die Zulassung berufsmässig qualifizierter Vertreter ermöglichte, wurden keine spezifischen Präzisierungen bezüglich der Untersuchungsmaxime vorgenommen. Aus dieser historischen Betrachtung leitet das Bundesgericht ab, dass die ursprünglich auf Anwälte bezogene Absicht der Beschränkung der Untersuchungsmaxime auf alle Fälle professioneller Vertretung ausgedehnt werden kann.

  • Teleologische Auslegung: Der Zweck der sozialen Untersuchungsmaxime ist es, die schwächere Vertragspartei zu schützen, die Waffengleichheit im Prozess zu gewährleisten und das Verfahren zu beschleunigen. Sie soll unerfahrenen Prozessparteien ermöglichen, auch ohne juristische Kenntnisse vor Gericht zu agieren. Daraus folgt a contrario, dass die richterliche Unterstützung nicht dazu dient, Nachlässigkeiten zu kompensieren, die nicht auf Unerfahrenheit, sondern auf prozessualer Sorgfaltspflicht beruhen. Das Bundesgericht betont, dass die Zulassung berufsmässig qualifizierter Vertreter (Art. 68 Abs. 2 ZPO) die Qualität der Vertretung und den Schutz der Rechtssuchenden sicherstellen soll. Sie bietet Parteien in Miet- und Arbeitsstreitigkeiten einen erleichterten Zugang zu kompetenter Hilfe. Diese Vertreter müssen über fundierte theoretische und praktische Kenntnisse des jeweiligen Rechtsgebiets und des anwendbaren Verfahrensrechts verfügen. Ihre Eignung ist unabhängig von einer klassischen juristischen Ausbildung. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass diese Kategorie von Vertretern, aufgrund der an sie gestellten Anforderungen, fähig ist, ihre Mandanten im vereinfachten Verfahren, das ohnehin durch geringere Formalität gekennzeichnet ist, effektiv zu unterstützen. Der Richter kann daher von einer Partei, die durch einen berufsmässig qualifizierten Vertreter vertreten wird, erwarten, dass sie bewusst im Verfahren agiert. Eine Attenuierung der sozialen Untersuchungsmaxime ist somit unter teleologischen Gesichtspunkten gerechtfertigt.

  • Vereinbarkeit mit der Koalitionsfreiheit und Stellungnahme zur Lehre: Diese Auslegung steht gemäss Bundesgericht im Einklang mit der Koalitionsfreiheit (Art. 28 BV), da sie die bestehenden Fähigkeiten der Gewerkschaften anerkennt und ihnen keine Änderungen in ihrer Arbeitsweise oder Organisation auferlegt. Die Bundesrichter stellen fest, dass die Mehrheitslehre ebenfalls eine zurückhaltende Anwendung von Art. 247 Abs. 2 ZPO bei Vertretung durch berufsmässig qualifizierte Vertreter unterstützt. Minderheitsmeinungen, die dies ablehnen, werden mit Verweis auf die etablierte Rechtsprechung und die Gesetzgeberabsicht zurückgewiesen. Insbesondere wird argumentiert, dass die Notwendigkeit von "Nicht-Anwälten" im vereinfachten Verfahren nicht bedeute, dass die Untersuchungsmaxime uneingeschränkt gelten müsse, da die Anforderungen an qualifizierte Vertreter deren Kompetenz sicherstellen und die Attenuierung der Maxime andere prozessuale Erleichterungen (z.B. die Möglichkeit, neue Fakten und Beweismittel bis zur Beratung einzuführen, oder die Pflicht des Gerichts, bei offensichtlichen Versehen einzugreifen) nicht aufhebt.

  • Abgrenzung zu BGE 4A_437/2023: Das Bundesgericht grenzt das Urteil 4A_437/2023, das verneinte, dass ein berufsmässig qualifizierter Vertreter im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege als Rechtsbeistand eingesetzt werden kann, von der vorliegenden Thematik ab. Die dortige Erwägung, dass die Bestellung eines berufsmässig qualifizierten Vertreters die Waffengleichheit nicht in gleicher Weise gewährleiste wie die Bestellung eines Anwalts, bezog sich auf die spezifischen Anforderungen von Art. 29 Abs. 3 BV (unentgeltliche Rechtspflege), die einen juristisch ausgebildeten und einer Aufsichtsbehörde unterstellten Beistand voraussetzen. Dies sei ein anderer Kontext als die Beurteilung der allgemeinen Eignung von berufsmässig qualifizierten Vertretern, Parteien im vereinfachten Verfahren effektiv zu vertreten.

3.3. Anwendung auf den konkreten Fall Im vorliegenden Fall war der Rekurrent durch eine Gewerkschaftssekretärin als berufsmässig qualifizierte Vertreterin vertreten. Die festgestellten sachlichen Mängel seiner Klage waren nicht als offensichtliche Versehen zu qualifizieren, die eine Intervention des Gerichts zwingend gemacht hätten. Da die Postulationsfähigkeit der Vertreterin nicht offensichtlich fehlte, konnte das Bundesgericht diese nicht überprüfen. Angesichts der gebotenen Zurückhaltung bei der Anwendung der sozialen Untersuchungsmaxime hatte die Vorinstanz Art. 247 Abs. 2 ZPO korrekt angewendet. Der entsprechende Rügenpunkt des Rekurrenten wurde somit abgewiesen.

4. Zweiter Rügenpunkt (Verletzung von Rückweisungsprinzipien und res judicata)

Der Rekurrent machte geltend, die kantonale Vorinstanz habe willkürlich die Grundsätze des Rückweisungsentscheids, die Hierarchie der Instanzen und die Rechtskraft verletzt. Dies hätte dazu führen müssen, dass seine Klage vom Kantonsgericht gutgeheissen werde, was sich auf die Kostenverteilung auswirken würde. Das Bundesgericht wies diesen Rügenpunkt ebenfalls ab. Da die Hauptfrage zur Anwendung von Art. 247 Abs. 2 ZPO materiell zugunsten der Vorinstanz entschieden wurde, war es nicht willkürlich, den Rekurrenten als unterliegende Partei zu betrachten und ihm die Kosten aufzuerlegen.

5. Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Zivilsachen ab. Die Gerichtskosten von CHF 500.- werden dem Rekurrenten auferlegt. Eine Parteientschädigung an die Intimée wird nicht zugesprochen, da deren Beschwerdeantwort verspätet eingereicht wurde.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht präzisiert, dass die soziale Untersuchungsmaxime (Art. 247 Abs. 2 ZPO) auch dann mit Zurückhaltung anzuwenden ist, wenn eine Partei im vereinfachten Verfahren durch einen berufsmässig qualifizierten Vertreter (Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO) vertreten wird. Dies, weil diese Vertreter aufgrund ihrer erforderlichen Fachkenntnisse und der geringeren Formalität des vereinfachten Verfahrens als fähig erachtet werden, die Interessen ihrer Mandanten effektiv zu verteidigen. Das Gericht lehnt die Argumentation ab, dass nur bei Anwaltsvertretung eine Attenuierung zulässig sei, und bestätigt die Praxis der kantonalen Vorinstanz, die Klage des Arbeitnehmers aufgrund unzureichender Sachdarstellung abzulehnen.