Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts, 7B_172/2025 vom 18. August 2025, detailliert zusammen.
Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsentscheids 7B_172/2025 vom 18. August 2025
1. Parteien und Gegenstand des Verfahrens
- Beschwerdeführer: A.A._ und B._ Inc., vertreten durch ihren Anwalt.
- Beschwerdegegner (Intimé): Yves Bertossa, Erststaatsanwalt der Republik und des Kantons Genf.
- Gegenstand: Ausstandsgesuch (Récusation) gegen den Erststaatsanwalt Yves Bertossa.
- Vorinstanz: Strafkammer der Beschwerdeinstanz des Kantons Genf (Chambre pénale de recours), deren Entscheid vom 22. Januar 2025 angefochten wurde.
2. Sachverhalt (massgebliche Fakten chronologisch)
Das Verfahren hat eine lange Vorgeschichte, die für die Beurteilung des Ausstandsgesuchs von zentraler Bedeutung ist:
- 2015: Der Erststaatsanwalt Yves Bertossa (im Folgenden: Staatsanwalt) leitet eine Untersuchung (P_1) wegen Veruntreuungen durch C._ (ehemaliger Bankangestellter der D._ AG) zum Nachteil der Bank und ihrer Kunden, darunter A.B._ (Vater des Beschwerdeführers A.A._) und E._, sowie deren Gesellschaften (u.a. B._ Inc.).
- 2017: Eine neue separate Untersuchung (P_2) wird wegen möglicher Geldwäscherei durch die D._ AG eingeleitet. C._ wird wegen qualifizierten Betrugs, ungetreuer Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung angeklagt (P_1). Die Kunden A.B._ und E._ erheben Beschwerde gegen diese Anklageschrift, da sie eine "implizite Einstellung" gewisser Sachverhalte darstelle. Diese Beschwerde wird vom Genfer Kantonsgericht gutgeheissen (ACPR_1) und vom Bundesgericht bestätigt (6B_819/2018), worauf die Sache zur Ergänzung der Untersuchung an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen wird (ACPR_2).
- 2019: Weitere Klagen von A.B._ und E._ wegen Urkundenfälschung, ungetreuer Geschäftsbesorgung und anderer Delikte nach Entdeckung gefälschter Kontoauszüge auf C.__s Computer werden der Untersuchung beigefügt.
- Februar 2020: C.__ wird einvernommen und behauptet, die Fälschungen alleine mit Standard-Bürosoftware erstellt zu haben. Er verweigert weitere Fragen der Geschädigten.
- Juli 2020: C.__ verstirbt.
- Februar 2021: Die Staatsanwaltschaft verfügt die Einstellung des Verfahrens wegen C._s Tod. A.B._ und E._ (A.B._ nun vertreten durch A.A.__) fechten diese Einstellung an. Die Einstellung wird vom Bundesgericht aufgehoben (6B_1480/2021 vom 12. Januar 2023) und die Sache zur weiteren Untersuchung an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen (ACPR_4 vom 15. März 2023). Dies ist ein entscheidender Punkt: Die Staatsanwaltschaft wurde explizit zur Wiederaufnahme und Ergänzung der Untersuchung angewiesen.
- September 2023 - Mai 2024 (nach Rückweisung): Der Staatsanwalt hält mehrere Einvernahmen ab.
- April 2024: Der Staatsanwalt fordert von der D.__ AG einen IT-Mitarbeiter an, um Fragen zur Erstellung und Veränderbarkeit von Kontoauszügen zu beantworten. Aufgrund der Erklärungen der Bank verzichtet der Staatsanwalt auf diese Einvernahme. Die Parteien werden am 28. Mai 2024 darüber informiert.
- 30. August 2024: A.A._ und B._ Inc. protestieren gegen diesen Entscheid, da er "frontal" mit den Rückweisungsentscheiden kollidiere, und verlangen unverzüglich die Einvernahme der IT-Mitarbeiter.
- Mai 2024 - November 2024: Die D._ AG fusioniert mit der G._ AG und erlischt. Es entbrennt ein Streit über die Parteistellung der G.__ AG. Die Beschwerdeführer lehnen deren Teilnahme ab und fordern eine Fortsetzung der Untersuchung. Im Schreiben vom 15. November 2024 drohen sie dem Staatsanwalt, "alle Konsequenzen" aus der Weigerung des Ministère public zu ziehen, die von den Rechtsmittelinstanzen geforderten Untersuchungshandlungen vorzunehmen.
- 27. November 2024: Der Staatsanwalt teilt den Parteien mit, dass er die Frage der Parteistellung der G.__ AG erst am Ende der Untersuchung entscheiden werde, eine Verfahrenseinstellung nicht gerechtfertigt sei und die Einvernahme eines IT-Mitarbeiters sowie die Beschlagnahme des Computers von C.__ abgelehnt würden.
- 5. Dezember 2024: A.A._ und B._ Inc. stellen ein Ausstandsgesuch gegen den Staatsanwalt Yves Bertossa. Sie begründen dies mit seinem Schreiben vom 27. November 2024, welches zeige, dass er trotz der Anordnungen der Rechtsmittelinstanzen keine Untersuchungshandlungen bezüglich der IT-Einvernahme vorgenommen habe und dass er die gleiche Haltung zur Parteistellung der G.__ AG einnehme. Dieses Verhalten stelle einen "Paroxysmus der Voreingenommenheit" zugunsten der Bank dar, insbesondere nachdem der Staatsanwalt bereits früher durch Nichtigkeitsentscheide begünstigende Entscheidungen für die Bank getroffen habe.
- 22. Januar 2025: Die Genfer Strafkammer weist das Ausstandsgesuch ab.
- 24. Februar 2025: Die Beschwerdeführer reichen Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein mit dem Hauptantrag, der Ausstand des Staatsanwalts sei anzuordnen.
3. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüft die Beschwerde primär im Hinblick auf die Einhaltung der Rügefrist sowie die objektive Begründetheit des Befangenheitsvorwurfs.
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3.1. Zulässigkeit der Beschwerde (knappe Erwägungen)
- Die Beschwerde ist grundsätzlich zulässig, da sie sich gegen einen Zwischenentscheid (Ausstandsgesuch) in einem Strafverfahren richtet (Art. 78 ff. und 92 BGG).
- Die Beschwerdeführer sind als Geschädigte, deren Ausstandsgesuch abgelehnt wurde, zur Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. a und b BGG).
- Das Bundesgericht stellt klar, dass es sich ausschliesslich mit der Frage des Ausstands befasst und nicht mit der materiellen Frage der begangenen Delikte, der Beweiserhebung oder der Parteistellung der G.__ AG.
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3.2. Rechtlicher Rahmen für Ausstandsgesuche
- Art. 56 lit. f StPO: Diese Generalklausel entspricht der Garantie eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts gemäss Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Abs. 1 EMRK. Es ist nicht erforderlich, eine tatsächliche Befangenheit nachzuweisen; ein objektiver Anschein der Befangenheit genügt.
- Keine Befangenheit bei blosser Fehlerhaftigkeit: Entscheidungen oder Verfahrenshandlungen, die sich später als fehlerhaft erweisen, begründen allein keinen objektiven Anschein der Befangenheit. Nur besonders schwere oder wiederholte, gravierende Pflichtverletzungen, die sich iterativ zum Nachteil derselben Partei auswirken und den Anschein der Befangenheit objektiv rechtfertigen, können einen Befangenheitsverdacht begründen (Verweis auf BGE 143 IV 69 E. 3.2; BGE 148 IV 137 E. 2.2). Das Ausstandsverfahren dient nicht dazu, die Verfahrensleitung zu kritisieren oder Zwischenentscheide anzufechten.
- Rolle des Staatsanwalts: Der Staatsanwalt hat die Verfahrensleitung inne (Art. 61 lit. a StPO) und muss für einen korrekten und rechtmässigen Ablauf sorgen (Art. 62 Abs. 1 StPO). Er ist verpflichtet, von Amtes wegen und mit gleicher Sorgfalt belastende und entlastende Umstände abzuklären (Art. 6 StPO). Er muss eine gewisse Unparteilichkeit wahren, eine Zurückhaltungspflicht beachten und darf keine Partei auf Kosten einer anderen bevorteilen (Verweis auf BGE 141 IV 178 E. 3.2.2).
- Rügefrist (Art. 58 Abs. 1 StPO): Ein Ausstandsgesuch muss unverzüglich gestellt werden, sobald die Partei Kenntnis vom Befangenheitsgrund hat, typischerweise innerhalb von sechs bis sieben Tagen. Eine spätere Geltendmachung führt zur Verwirkung. Es obliegt der Partei, die Einhaltung der Frist glaubhaft zu machen.
- Kumulation von Befangenheitsgründen: Wenn sich der Anschein der Befangenheit erst aus der Kumulation mehrerer Vorfälle ergibt, kann das Gesuch gestellt werden, wenn der letzte Vorfall das "Fass zum Überlaufen bringt". Frühere, bekannte Vorfälle können in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden, sofern der letzte Vorfall selbst einen Befangenheitsgrund oder zumindest ein Indiz für den Anschein der Befangenheit darstellt (Verweis auf u.a. BGer 7B_1407/2024 E. 2.2.2).
- Verbot des Rechtsmissbrauchs: Es ist unzulässig, eine Art "Privatdossier" über angeblich fehlerhaftes Verhalten eines Richters anzulegen und den Zeitpunkt der Ausstandsgesuchstellung frei zu wählen. Dies verstösst gegen den Grundsatz von Treu und Glauben; man darf einen Befangenheitsgrund nicht in Reserve halten, um ihn erst bei einem ungünstigen Verfahrensausgang geltend zu machen (Verweis auf BGE 143 V 66 E. 4.3).
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3.3. Anwendung auf den vorliegenden Fall
- Verspätung des Rügegrundes "IT-Einvernahme": Das Bundesgericht bestätigt die Argumentation der kantonalen Instanz. Der Vorwurf, der Staatsanwalt weigere sich, die Anweisungen der Rechtsmittelinstanzen umzusetzen, insbesondere bezüglich der Einvernahme des IT-Mitarbeiters, war den Beschwerdeführern spätestens seit dem 30. August 2024 bekannt. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits protestiert, dass der Verzicht auf die Einvernahme "frontal" mit den Rückweisungsentscheiden kollidiere. Dieser Vorwurf wurde im Schreiben vom 15. November 2024 sogar ausdrücklich wiederholt, indem die Beschwerdeführer "alle Konsequenzen" ankündigten.
- Verstoss gegen Treu und Glauben: Da die angebliche "Weigerung zu ermitteln" den Beschwerdeführern am 15. November 2024 bekannt war, hätten sie das Ausstandsgesuch unverzüglich stellen müssen. Sie entschieden sich jedoch, nicht sofort zu handeln, sondern dies ausdrücklich vorzubehalten und das Gesuch erst nach Erhalt eines weiteren, für sie ungünstigen Entscheids (Schreiben vom 27. November 2024) zu stellen. Dieses Vorgehen verstösst gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und wird nicht geschützt. Die Formulierung "zu diesem Zeitpunkt" (im Zusammenhang mit dem Entscheid vom 28. Mai 2024) berechtigt die Parteien nicht, ungünstige Entscheide zu sammeln, um ein künftiges Ausstandsgesuch zu stützen.
- Keine substanzielle Untätigkeit nach Rückweisung: Die Beschwerdeführer legen keine stichhaltige Argumentation vor, die eine Untätigkeit des Staatsanwalts seit den Rückweisungsentscheiden von 2023 belegen würde. Sie verweisen auf frühere Ausstandsentscheide (2020, 2021), die sich nicht auf die aktuelle Verfahrensphase beziehen. Das Bundesgericht stellt vielmehr fest, dass nach den Rückweisungsentscheiden Anhörungen stattfanden und Schriftwechsel bezüglich des IT-Mitarbeiters und der Parteistellung der G.__ AG erfolgten. Die blosse Tatsache, dass die vom Staatsanwalt getroffenen Entscheidungen nicht den Erwartungen der Beschwerdeführer entsprachen, begründet keinen Nachweis einer "Weigerung zu ermitteln" oder eines Anscheins der Befangenheit.
- Kein "Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt": Auch der letzte Anlass, die Vertagung der Frage der Parteistellung der G.__ AG auf den Abschluss der Untersuchung, kann die Befangenheit nicht begründen. Die Rückweisungsentscheide von 2023 konnten dazu keine Anweisungen enthalten, da die Fusion erst danach erfolgte. Zudem haben die Beschwerdeführer diesen Entscheid des Staatsanwalts nicht angefochten. Angesichts der Tatsache, dass parallele Verfahren zu ähnlichen Fragen der Parteistellung beim Bundesgericht und der kantonalen Strafkammer hängig sind, stellt die Vertagung dieser Frage durch den Staatsanwalt keinen schweren Verfahrensfehler dar, der einen Anschein der Befangenheit begründen könnte.
4. Fazit des Bundesgerichts
Das Bundesgericht weist die Beschwerde, soweit sie zulässig ist, ab. Die Beschwerdeführer tragen die Gerichtskosten solidarisch.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht wies das Ausstandsgesuch gegen den Genfer Erststaatsanwalt Yves Bertossa ab. Es bestätigte, dass die Beschwerdeführer die Rügefrist für den Hauptbefangenheitsgrund – die angebliche Weigerung des Staatsanwalts, gerichtlich angeordnete Untersuchungshandlungen (insbesondere die Einvernahme eines IT-Mitarbeiters der Bank) vorzunehmen – nicht eingehalten hatten. Dieser Vorwurf war ihnen spätestens seit August 2024 bekannt. Die spätere Geltendmachung nach einem weiteren für sie ungünstigen Entscheid (November 2024) verstösst gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Das Gericht befand zudem, dass die Beschwerdeführer keine substanzielle Untätigkeit des Staatsanwalts seit der gerichtlichen Rückweisung im Jahr 2023 nachweisen konnten und dass die vom Staatsanwalt getroffenen Entscheidungen, auch wenn sie nicht den Erwartungen der Beschwerdeführer entsprachen, keinen objektiven Anschein der Befangenheit begründeten. Insbesondere die Vertagung der Frage der Parteistellung einer fusionierten Bank wurde als sachgerecht beurteilt, da hierzu parallele Verfahren hängig waren.