Das Urteil 6B_231/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 6. August 2025 betrifft eine Beschwerde gegen ein Urteil der Chambre pénale d'appel et de révision des Genfer Kantonsgerichts vom 28. Januar 2025. Der Beschwerdeführer, A.__, wurde wegen versuchter Tötung, einfacher Körperverletzung und Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt. Er ficht die Qualifikation als versuchte Tötung, die Höhe der Strafe und insbesondere die Anordnung der Landesverweisung an.
I. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer, ein 1995 geborener marokkanischer Staatsangehöriger mit einer abgelaufenen Aufenthaltsbewilligung B und einer rechtskräftigen Wegweisungsverfügung, ist Vater eines 2019 geborenen minderjährigen Kindes. Er ist seit 2021 von der Mutter des Kindes getrennt und seit 2024 geschieden, ohne regelmässigen Kontakt zu seinem Kind. Seit seiner Ankunft in der Schweiz im Jahr 2016 hat er keine dauerhafte Arbeitsstelle gehabt und lebte vor seiner Inhaftierung in einem kollektiven Aufnahmezentrum und bezog Sozialhilfe. Sein Strafregister weist vier Verurteilungen zwischen 2017 und 2019 wegen Diebstahls, Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, illegalen Aufenthalts und Hehlerei auf.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 2023 geriet der Beschwerdeführer in Genf nach Schliessung einer Diskothek mit dem Beschwerdegegner B._ in einen Streit, der aus einem nicht genau feststellbaren nichtigen Grund eskalierte. Nach einer verbalen Auseinandersetzung kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung, bei der B._ den Beschwerdeführer mit einem Faustschlag zu Boden streckte. Der Beschwerdeführer stand auf, bedrohte B._ auf Arabisch mit dem Tod ("ich werde dich töten"), verfolgte ihn mit einem glänzenden Gegenstand in der Hand und warf einen Glaskrug nach ihm. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung fügte der Beschwerdeführer B._ einen Messerstich in die rechte Flanke zu. Obwohl B._ verletzt zu fliehen versuchte, wurde er vom Beschwerdeführer erneut eingeholt, der weiterhin mit dem Messer bewaffnet aggressiv drohte und versuchte, weitere Stiche anzubringen. Die Angriffe wurden erst durch das wiederholte Eingreifen eines Dritten (F._) beendet. Kurz nach den Ereignissen wurde beim Beschwerdeführer ein Schweizer Taschenmesser gefunden, dessen grosse Klinge (6.1 cm) DNA-Spuren und Blut des B.__ aufwies.
Die medizinische Untersuchung ergab bei B.__ eine V-förmige Wunde in der rechten Flanke von 3.9 bis 6 cm Tiefe, die mit aktiven Blutungen und einer erheblichen Schwellung einherging. Die Verletzung war nicht lebensbedrohlich, führte jedoch zu einem Spitalaufenthalt und Arbeitsunfähigkeit sowie der Entwicklung einer erheblichen Angststörung mit posttraumatischer Belastungsstörung.
Das erstinstanzliche Gericht verurteilte den Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und ordnete eine Landesverweisung von sieben Jahren an. Das kantonale Appellationsgericht bestätigte dieses Urteil.
II. Rügen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer beantragt im Wesentlichen eine Änderung des Urteils dahingehend, dass er wegen qualifizierter einfacher Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt, die Genugtuungszahlungen und Gerichtskosten reduziert und von der gerichtlichen Landesverweisung abgesehen wird.
III. Erwägungen des Bundesgerichts
1. Sachverhaltsfeststellung und Eventualvorsatz bei versuchter Tötung
Das Bundesgericht tritt auf die Rügen des Beschwerdeführers zur Sachverhaltsfeststellung nur sehr beschränkt ein. Es ist an die kantonalen Feststellungen gebunden, es sei denn, diese wurden willkürlich ermittelt (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 9 BV). Appellatorische Kritik ist unzulässig. Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Ergänzungen und Rügen hinsichtlich angeblich widersprüchlicher Zeugenaussagen oder der Annahme, er sei bei der Verfolgung unbewaffnet gewesen, erachtet das Bundesgericht als unbegründet oder ungenügend substanziiert.
Der Beschwerdeführer bestreitet seine Verurteilung wegen versuchter Tötung (Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB) und macht geltend, es fehle am Tötungsvorsatz. Das Bundesgericht prüft diese Rüge detailliert:
- Rechtliche Grundlagen: Gemäss Art. 111 StGB wird bestraft, wer vorsätzlich einen Menschen tötet. Eine Tat ist versucht, wenn der Täter alle subjektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt und seinen Entschluss zur Tat manifestiert hat, die objektiven Tatbestandsmerkmale aber ganz oder teilweise fehlen (Art. 22 Abs. 1 StGB). Für den Versuch genügt Eventualvorsatz (Art. 12 Abs. 2 StGB). Die objektive Natur der Verletzung des Opfers ist für die Annahme einer versuchten Tötung unerheblich, sofern die subjektiven Voraussetzungen erfüllt sind (BGE 122 IV 246 E. 3a; Urteile 6B_264/2022, 6B_1106/2017).
- Eventualvorsatz (Art. 12 Abs. 2 StGB): Wer den Eintritt des Erfolges für möglich hält und ihn in Kauf nimmt, handelt eventualvorsätzlich. Die Feststellung, was eine Person wusste oder wollte, betrifft innere Tatsachen, die das Bundesgericht binden, es sei denn, sie wurden willkürlich festgestellt (BGE 141 IV 369 E. 6.3). Für den Nachweis des Eventualvorsatzes stützt sich der Richter in der Regel auf äussere Umstände. Massgebliche Faktoren sind die vom Täter erkannte Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung und die Schwere der Pflichtverletzung. Je grösser diese sind, desto eher kann auf eine Inkaufnahme des Erfolgs geschlossen werden. Auch die Motive und die Art der Ausführung der Tat sind relevant (Urteil 6B_545/2022 E. 4.2.1).
- Anwendung auf den Fall: Das kantonale Gericht hat das Vorliegen von Tötungsvorsatz, zumindest in Form des Eventualvorsatzes, zu Recht bejaht. Der Messerstich in die rechte Flanke (3.9 bis 6 cm tief mit einer 6.1 cm langen Klinge) traf eine Körperregion, die lebenswichtige Organe beherbergt. Der Beschwerdeführer konnte nicht ignorieren, dass ein solcher Stich tödlich enden könnte; er hat dies vor dem erstinstanzlichen Gericht sogar eingeräumt. Die Klingenlänge war ausreichend, um tödliche Verletzungen herbeizuführen. Entscheidend ist das vom Täter erkannte und in Kauf genommene Risiko, nicht der konkrete Verletzungserfolg. Angesichts der Tatdynamik, der Erregung und Alkoholisierung der Beteiligten, sowie der schlechten Sichtverhältnisse, zeigte der Einsatz eines Messers gegen einen unbewaffneten Gegner eine Gleichgültigkeit gegenüber einem potenziell tödlichen Ausgang (Urteil 6B_135/2020 E. 4.2).
Hinzu kommen die wiederholten Todesdrohungen des Beschwerdeführers und seine beharrlichen Versuche, die Aggression trotz Flucht des Opfers fortzusetzen und weitere Stiche anzubringen, während das Opfer wehrlos am Boden lag. Der Angriff wurde erst durch das Eingreifen eines Dritten unterbrochen, was die Inkaufnahme eines tödlichen Ausgangs bestätigt (Urteil 6B_924/2017 E. 1.4.3). Eine fehlende Prämeditation ist für die Qualifikation als Tötung irrelevant und differenziert lediglich zur qualifizierten Tötung (Mord) gemäss Art. 112 StGB. Das Bundesgericht verwirft somit die Rüge gegen die Qualifikation als versuchte Tötung.
2. Landesverweisung (Art. 66a StGB) und Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB)
Der Beschwerdeführer ficht die Landesverweisung an und beruft sich auf die Härtefallklausel.
- Rechtliche Grundlagen: Nach Art. 66a Abs. 1 lit. a StGB muss der Richter einen Ausländer, der wegen Tötung (einschliesslich des Versuchs) verurteilt wird, für fünf bis fünfzehn Jahre aus der Schweiz verweisen. Dies ist unabhängig von der Höhe der Strafe oder ob diese bedingt ist (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1). Die Voraussetzungen für eine Landesverweisung sind a priori erfüllt.
- Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Der Richter kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer eine schwere persönliche Härte bedeuten würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Die Klausel wird restriktiv angewendet (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2) und orientiert sich an Kriterien des Ausländerrechts (Art. 31 Abs. 1 AIG i.V.m. Art. 58a Abs. 1 AIG), einschliesslich der sozialen Wiedereingliederungsperspektiven (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1). Eine schwere persönliche Härte liegt vor, wenn die Landesverweisung einen erheblichen Eingriff in das durch Art. 13 BV und Art. 8 EMRK garantierte Privat- und Familienleben darstellt.
- Privatleben (Art. 8 Abs. 1 EMRK): Ein Ausländer muss besonders intensive soziale und berufliche Bindungen zur Schweiz nachweisen, die über eine gewöhnliche Integration hinausgehen. Lange Aufenthaltsdauer allein ist nicht massgeblich; Aufenthalte in Illegalität, Haft oder aufgrund Duldung werden nur gering gewichtet (BGE 149 I 207 E. 5.3.1).
- Familienleben (Art. 8 Abs. 1 EMRK): Geschützt sind enge und effektive Beziehungen zu einer dauerhaft in der Schweiz aufenthaltsberechtigten Person, primär der Kernfamilie (Ehepartner, Eltern-Minderjährige im gemeinsamen Haushalt). Das Kindeswohl (Art. 3 KRK) ist zu berücksichtigen. Die Landesverweisung stellt einen sehr schweren Eingriff dar, wenn sie eine intakte Familieneinheit mit gemeinsamer elterlicher Sorge und Obhut sprengt und den anderen Elternteil nicht zum Umzug ins Herkunftsland des Ausgewiesenen zugemutet werden kann (Urteil 7B_1317/2024 E. 2.2.3). Fehlen ein gemeinsamer Haushalt mit dem Kind und regelmässige Kontakte, wird im Prinzip kein Eingriff in das Familienleben i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK angenommen.
- Verhältnismässigkeit (Art. 5 Abs. 2 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK): Erforderlich ist, dass die Landesverweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismässig ist. Massgebliche Kriterien sind die Natur und Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts in der Schweiz, die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Herkunftsland (EGMR E.V. c. Suisse). Bei einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr bedarf es nach der "Zweijahresregel" ausserordentlicher Umstände, damit das private Interesse das öffentliche Interesse überwiegt (Urteil 6B_1248/2023 E. 3.4).
- Anwendung auf den Fall: Die Verurteilung des Beschwerdeführers zu fünf Jahren Freiheitsstrafe überschreitet die "Zweijahresregel" deutlich, sodass nur ausserordentliche Umstände eine Härtefallanwendung rechtfertigen würden.
- Mangelnde Integration: Der Beschwerdeführer hat sich seit 2016 in der Schweiz nicht integriert: keine feste Arbeit, Sozialhilfebezug, keine eigene Wohnung. Sein soziales Umfeld beschränkt sich auf einen Bruder, mit dem er kaum Kontakt hat, und seine Ex-Frau/Kind, zu denen er ebenfalls keinen Kontakt mehr pflegt. Seine Aufenthaltsbewilligung ist abgelaufen, und es besteht eine rechtskräftige Wegweisungsverfügung. Sein privates Interesse am Verbleib in der Schweiz ist stark eingeschränkt und beschränkt sich auf die familiären Bindungen zu seinem Kind.
- Familienbeziehungen zum Kind: Die Beziehungen zu seinem Kind beschränken sich auf eine kurze gemeinsame Lebenszeit von dessen Geburt (2019) bis zur Trennung von der Mutter (2021). Die Obhut liegt bei der Mutter, und der Beschwerdeführer hat keine Kontakte zum Kind. Die Landesverweisung führt daher zu keiner Zerstörung der Familieneinheit. Neue Sachverhalte bezüglich strittiger Besuchsrechte oder zivilrechtlicher Verfahren sind unzulässig bzw. ungenügend begründet. Der Beschwerdeführer hat auch keine moralische oder finanzielle Unterstützung für sein Kind geleistet. Die Teilnahme an Programmen im Gefängnis zur Wiederaufnahme des Kontakts mit dem Kind genügt nicht, um einen Eingriff in das Familienleben gemäss Art. 8 Abs. 1 EMRK zu begründen.
- Öffentliches Interesse: Das öffentliche Interesse an der Landesverweisung überwiegt das private Interesse des Beschwerdeführers. Die Schwere der versuchten Tötung und die Missachtung des Rechtsguts Leben wiegen schwer. Die 5-jährige Freiheitsstrafe übersteigt den Schwellenwert von einem Jahr für einen Bewilligungsentzug (Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG, BGE 139 I 145 E. 2.1). Die vier Vorverurteilungen und die einfache Körperverletzung an seiner Ex-Frau zeigen eine völlige Missachtung der schweizerischen Rechtsordnung und lassen eine erhebliche Rückfallgefahr erkennen. Die kantonale Instanz durfte die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers für die öffentliche Sicherheit bejahen.
- Fazit Härtefallklausel: Eine schwere persönliche Härte wurde vom Bundesgericht nicht bejaht. Selbst wenn, würden die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Beschwerdeführers überwiegen. Die Dauer der Landesverweisung von sieben Jahren ist angesichts der Umstände nicht unverhältnismässig.
3. Schengen-Meldung (SIS)
Der Beschwerdeführer rügt ferner die Meldung seiner Landesverweisung an das Schengener Informationssystem (SIS).
- Rechtliche Grundlagen: Gemäss Art. 21 der Verordnung (EU) 2018/1861 (SIS-II-Verordnung) dürfen solche Ausschreibungen nur erfolgen, wenn der Fall ausreichend angemessen, relevant und wichtig ist. Art. 24 Abs. 2 der Verordnung sieht vor, dass die Ausschreibung zum Zweck der Einreiseverweigerung insbesondere verhältnismässig ist, wenn die der Verurteilung zugrunde liegende Straftat mit einer maximalen Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr geahndet werden kann und die betreffende Person eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt (BGE 147 IV 340 E. 4.8).
- Anwendung auf den Fall: Angesichts der Schwere der versuchten Tötung, der verhängten fünfjährigen Freiheitsstrafe und der vom Beschwerdeführer ausgehenden Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist die Ausschreibung im SIS gerechtfertigt.
4. Strafzumessung und Genugtuung
Die Rügen des Beschwerdeführers zur Strafzumessung und zur Reduktion der Genugtuung und Gerichtskosten werden als gegenstandslos (da abhängig von der verworfenen Rüge der Täterqualifikation) oder als unzureichend begründet (Art. 42 Abs. 2 BGG, Art. 106 Abs. 2 BGG) abgewiesen. Das Bundesgericht hält fest, dass eine 5-jährige Freiheitsstrafe für versuchte Tötung in Konkurrenz mit zwei einfachen Körperverletzungen nicht gegen Art. 47 ff. StGB verstösst. Das Fehlen spezifischer Vorstrafen wirkt sich zudem neutral auf die Strafzumessung aus (BGE 141 IV 61 E. 6.3.2).
IV. Fazit
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in dem Masse, in dem es darauf eintrat, ab. Der Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, da seine Beschwerde von vornherein aussichtslos war. Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer auferlegt, unter Berücksichtigung seiner finanziellen Situation.
V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht bestätigt die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen versuchter Tötung durch Eventualvorsatz, da die Inkaufnahme eines tödlichen Ausgangs angesichts des Messerstichs in eine lebenswichtige Körperregion und der vehementen Fortsetzung der Angriffe gegeben war. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Härtefallklausel gegen die obligatorische Landesverweisung wird abgewiesen, da seine mangelnde Integration in die Schweiz und die fehlenden effektiven familiären Beziehungen zu seinem Kind keine schwere persönliche Härte begründen. Zudem überwiegt das erhebliche öffentliche Interesse an seiner Entfernung, insbesondere aufgrund der Schwere der Straftat, seiner Vorstrafen und der damit verbundenen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, sein privates Bleibeinteresse deutlich. Auch die Schengen-Meldung wird als verhältnismässig erachtet. Die Rügen zur Strafzumessung und den Nebenfolgen werden als unbegründet oder unzureichend substanziiert verworfen.