Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_607/2024 vom 18. August 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 8C_607/2024 vom 18. August 2025

1. Parteien und Streitgegenstand: Der Beschwerdeführer A.__ reichte beim Bundesgericht Beschwerde gegen einen Entscheid des Genfer Kantonsgerichts ein. Streitgegenstand war die Gewährung einer Invaliditätsrente und einer Integritätsentschädigung (IE) durch die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA/CNA) nach zwei Unfällen im Jahr 2019.

2. Sachverhalt: A.__, geboren 1986 und von Beruf Elektroinstallateur, erlitt zwei Arbeitsunfälle: * 6. Juni 2019 (Unfall 1): Sturz auf einer Baustelle mit Fraktur des linken Kahnbeins und Verstauchung des rechten Knöchels. * 19. November 2019 (Unfall 2): Splitter im linken Auge beim Bohren von Beton. Beide Unfälle wurden zunächst von der SUVA übernommen. Im Verlauf der Behandlung wurden weitere Beschwerden wie eine depressive Störung, chronische Rückenschmerzen (aufgrund degenerativer Diskopathien) und eine Epicondylitis rechts diagnostiziert. Das Bundesamt für Sozialversicherungen für im Ausland wohnhafte Versicherte (OAIE) sprach dem Versicherten ab 1. Juli 2021 eine ganze Invalidenrente der IV zu.

Die SUVA beendete am 1. Januar 2024 die Leistungen für den Unfall vom 6. Juni 2019. Mit Entscheid vom 13. Dezember 2023, bestätigt im Einspracheentscheid vom 13. März 2024, sprach sie dem Beschwerdeführer eine Integritätsentschädigung von 20 % zu, lehnte jedoch eine Invaliditätsrente ab, da der Invaliditätsgrad bei 7,63 % liege. Grundlage hierfür war ein Gutachten des Kreisarztes Dr. B.__.

Hinsichtlich des Unfalls vom 19. November 2019 meldete der Beschwerdeführer im Mai 2022 einen Rückfall der ophthalmologischen Beschwerden. Die SUVA lehnte mit Entscheid vom 27. Juli 2023 (bestätigt im Einspracheentscheid vom 23. Oktober 2023) Leistungen ab, da kein Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den Augenbeschwerden bestehe. Das Genfer Kantonsgericht hob diesen Einspracheentscheid am 16. Mai 2024 teilweise auf und wies die Sache zu ergänzenden Abklärungen an die SUVA zurück.

Das Kantonsgericht Genf wies die Beschwerde des Versicherten gegen den Einspracheentscheid der SUVA vom 13. März 2024 (betreffend Unfall 1) am 19. September 2024 ab. Dagegen richtete sich die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht.

3. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:

3.1. Zulässigkeit von separaten Entscheiden bei mehreren Unfällen (Erwägung 4): Der Beschwerdeführer rügte eine Rechtsverletzung, da die SUVA getrennte Entscheide für die beiden Unfälle erlassen habe, die nur fünf Monate auseinander lagen und deren Abklärung gleichzeitig erfolgte. Er argumentierte, dies widerspreche der Prozessökonomie und die gesamte Fallakte spreche für eine globale Beurteilung des klinischen Gesamtbildes bei der Invaliditätsbemessung. Eine minimale Auswirkung des zweiten Unfalls auf die Arbeitsfähigkeit könnte bereits zu einem Rentenanspruch führen, da der erste Unfall bereits einen Invaliditätsgrad von 8 % zur Folge hatte.

Das Bundesgericht hielt fest, dass die Rechtsprechung es der Unfallversicherung in bestimmten Fällen erlaubt, die Folgen mehrerer aufeinanderfolgender Unfälle in separaten Entscheiden festzustellen, auch wenn dies die Sachverhaltsermittlung beeinträchtigen kann, aber zur fristgerechten Behandlung von Einsprachen beitragen kann (Art. 52 Abs. 2 ATSG). Die Versicherung müsse eine Interessenabwägung vornehmen.

Obwohl das Bundesgericht die Argumente des Beschwerdeführers bezüglich der Nähe der Unfälle und der Möglichkeit einer Gesamtbeurteilung nachvollzog, wies es darauf hin, dass die SUVA zum Zeitpunkt des Entscheids über den ersten Unfall bereits einen Einspracheentscheid zum zweiten Unfall gefällt hatte (mit Ablehnung des Kausalzusammenhangs). Diese chronologische Abfolge erklärte die getrennten Verfahren. Das Bundesgericht liess die Frage, ob die SUVA mit separaten Entscheiden das Recht verletzt hatte, letztlich offen. Es erkannte jedoch die prozessual "verwickelte Situation" an, die dazu führen könnte, dass die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers nie im Lichte aller relevanten Beschwerden geprüft wird oder er gegebenenfalls zwei Invaliditätsrenten zugesprochen bekommt. Da die Sache jedoch aus anderen Gründen zurückgewiesen werde, seien diese Probleme derzeit noch "theoretisch". Das Bundesgericht wies die SUVA an, in ihrem neuen Entscheid über die Rente auch die Folgen des zweiten Unfalls zu berücksichtigen und sich so in einem einzigen Entscheid über den Rentenanspruch aus beiden Unfällen zu äussern, falls der Kausalzusammenhang für die ophthalmologischen Beschwerden nachträglich anerkannt werde.

3.2. Beurteilung der funktionellen Einschränkungen und Arbeitsfähigkeit (Invaliditätsrente) (Erwägung 5): Der Beschwerdeführer bestritt die vom Kreisarzt Dr. B.__ festgelegten funktionellen Einschränkungen und die angenommene volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit. Er stützte sich dabei auf Beobachtungen aus einem Berufspraktikum bei den Établissements publics pour l'intégration (EPI), die eine "nicht verwertbare" oder zumindest nur 50 % Restarbeitsfähigkeit attestierten. Zudem forderte er einen statistischen Abzug von 25 % auf dem Invalideneinkommen.

3.2.1. Beweiswert medizinischer Gutachten und Beobachtungsberichte (Erwägung 5.1): Das Bundesgericht verwies auf die Grundsätze der freien Beweiswürdigung und der Waffengleichheit (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Es betonte, dass der Versicherte das Recht habe, die Zuverlässigkeit interner Ärztegutachten mit eigenen Beweismitteln anzuzweifeln. Bei Zweifeln zwischen internen Gutachten und Arztberichten unabhängiger Ärzte sei ein externes medizinisches Gutachten (Art. 44 ATSG oder gerichtliches Gutachten) einzuholen (ATF 135 V 465). Es obliege in erster Linie den Ärzten, sich zur Arbeitsfähigkeit zu äussern; die berufliche Beobachtung diene der Ergänzung, um die konkrete Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu beurteilen. Bei wesentlichen Abweichungen sei eine Ergänzung der Abklärungen erforderlich (8C_43/2024).

3.2.2. Funktionelle Einschränkungen und Restarbeitsfähigkeit (Erwägung 5.4): Das Bundesgericht bestätigte die Feststellung der Vorinstanz, dass kein adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 6. Juni 2019 und psychischen Störungen oder den später aufgetretenen Beschwerden am rechten Oberarm bestehe. Es wies darauf hin, dass die EPI-Beurteiler alle gesundheitlichen Beschwerden des Beschwerdeführers berücksichtigten, nicht nur die Unfallfolgen des ersten Unfalls (wie chronische Rückenschmerzen, Epicondylitis, Karpaltunnelsyndrom, Depressionen). Bei Beschränkung auf die Unfallfolgen des Unfalls vom 6. Juni 2019 stimmten die von den EPI-Spezialisten beschriebenen funktionellen Einschränkungen weitgehend mit denen des Kreisarztes Dr. B.__ überein (z.B. starke Einschränkung der linken Hand, Vermeidung von schnellen oder häufigen Zwangsschliessungen oder Pronosupinationen der linken Hand, bevorzugte Nutzung der rechten Hand und des rechten Arms, leichte Tätigkeit im Wechsel von sitzender und stehender Position, geringe Gehstrecken). Das Bundesgericht befand, dass die Einschätzung der Berufsbeobachter nicht wesentlich von jener des Kreisarztes abwich und es daher keinen Anlass gab, von dessen Beurteilung abzuweichen. Der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine höhere Restarbeitsunfähigkeit (100% oder 50%) wurde auf dieser Grundlage abgewiesen.

3.2.3. Statistischer Abzug auf dem Invalideneinkommen (Abattement) (Erwägung 5.5): Die Vorinstanz hatte einen Abzug von 5 % auf dem statistischen Invalideneinkommen vorgenommen. Der Beschwerdeführer verlangte einen Abzug von 25 %.

Das Bundesgericht bekräftigte, dass die Höhe eines statistischen Abzugs von den gesamten persönlichen und beruflichen Umständen abhängt (Behinderung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltsbewilligung, Beschäftigungsgrad) und eine globale, ermessensweise Beurteilung erfordert (ATF 148 V 419). Während die Frage, ob ein Abzug vorgenommen werden soll, eine Rechtsfrage ist, ist das Ausmass des Abzugs eine Ermessensfrage, die vom Bundesgericht nur bei Ermessensüberschreitung, -unterschreitung oder -missbrauch überprüft wird (ATF 148 V 419).

Das Bundesgericht stellte fest, dass die funktionellen Einschränkungen des Beschwerdeführers nicht unerheblich seien. Die Benutzung seiner linken Hand sei stark eingeschränkt; sie diene im Wesentlichen nur noch als Hilfsmittel, und der Beschwerdeführer arbeite faktisch einhändig. Auch das Tragen von Lasten sei stark eingeschränkt (max. 5 kg punktuell, 2 kg häufig). Hinzu kämen erhebliche Bewegungseinschränkungen. Unter diesen Umständen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Beschwerdeführer nahezu ausschliesslich einhändige Tätigkeiten ausüben könne, hat das kantonale Gericht sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt, indem es den von der SUVA beschlossenen Abzug von 5 % bestätigte. Obwohl der Beschwerdeführer Rechtshänder ist und somit die betroffene linke Hand nicht die dominante Hand ist (was einen 25%-Abzug nach bundesgerichtlicher Praxis für dominante Hand einschränkt), sei ein Abzug von 10 % gerechtfertigt. Ein solcher Abzug führe zur Gewährung einer Invaliditätsrente.

3.3. Integritätsentschädigung (IE) (Erwägung 5.6): Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf eine IE von 50 % nicht mit einem medizinischen Gutachten. Das Bundesgericht wies diesen Teil der Beschwerde daher ab und bestätigte die von der Vorinstanz bestätigte IE von 20 %. Es merkte jedoch an, dass bei einer späteren Anerkennung des Kausalzusammenhangs zwischen den ophthalmologischen Beschwerden und dem zweiten Unfall vom 19. November 2019 die SUVA auch einen ergänzenden Anspruch auf eine IE für diese Beschwerden prüfen müsse, unter Berücksichtigung der gesamten Beeinträchtigungen (Art. 36 Abs. 3 UVV).

4. Fazit und Rückweisung: Das Bundesgericht hiess die Beschwerde teilweise gut. Es hob den angefochtenen Entscheid des Kantonsgerichts Genf sowie den Einspracheentscheid der SUVA vom 13. März 2024 hinsichtlich der Invaliditätsrente auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die SUVA zurück. Die SUVA hat einen statistischen Abzug von 10 % auf dem Invalideneinkommen anzuwenden, was zur Gewährung einer Invaliditätsrente führen wird. Bei der Neubeurteilung hat die SUVA auch die Folgen des zweiten Unfalls zu berücksichtigen, falls der Kausalzusammenhang für die ophthalmologischen Beschwerden nachträglich anerkannt wird. Im Übrigen, insbesondere bezüglich der Integritätsentschädigung, wurde die Beschwerde abgewiesen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat die Beschwerde teilweise gutgeheissen und die Sache an die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) zurückgewiesen.

  1. Verfahrenstrennung: Die Frage der Zulässigkeit separater Entscheide für zwei eng beieinander liegende Unfälle wurde offengelassen, aber die SUVA wurde instruiert, in der neuen Entscheidung eine umfassende Beurteilung beider Unfälle vorzunehmen, sollte der Kausalzusammenhang für die Folgen des zweiten Unfalls nachträglich anerkannt werden.
  2. Arbeitsfähigkeit und Invaliditätsrente: Die Beurteilung der funktionellen Einschränkungen und der Restarbeitsfähigkeit durch den Kreisarzt wurde bestätigt. Es wurde jedoch festgestellt, dass der von den Vorinstanzen angewandte statistische Abzug von 5 % auf dem Invalideneinkommen aufgrund der erheblichen, nahezu einhändigen Tätigkeiten und Bewegungseinschränkungen des Beschwerdeführers rechtsfehlerhaft war. Das Bundesgericht erachtete einen Abzug von 10 % als angemessen, was einen Anspruch auf eine Invaliditätsrente begründet.
  3. Integritätsentschädigung: Der Antrag auf eine höhere Integritätsentschädigung (50% statt 20%) wurde mangels Begründung abgewiesen, jedoch mit dem Vorbehalt, dass bei Anerkennung des Kausalzusammenhangs für den zweiten Unfall eine ergänzende Prüfung erfolgen muss.