Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (2C_217/2025 vom 5. August 2025)
I. Einleitung
Das Bundesgericht hatte über eine öffentlich-rechtliche Beschwerde und eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde der Rekurrentin A._, einer B._-Staatsangehörigen, gegen einen Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Waadt zu befinden. Gegenstand des Verfahrens war der Widerruf ihrer Aufenthaltsbewilligung UE/EFTA sowie derjenigen ihrer Tochter und die darauf folgende Wegweisung aus der Schweiz. Die Rekurrentin beantragte im Wesentlichen die Aufhebung des kantonalen Entscheids und die Feststellung ihres Rechts auf Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung.
II. Sachverhalt
Die 1985 geborene Rekurrentin A._ reiste am 1. Juni 2019 mit ihren beiden ebenfalls B._-Staatsangehörigen Kindern C._ (geb. 2018) und D._ (geb. 2006) in die Schweiz ein, um hier zu arbeiten. Sie war ab dem 1. Juli 2019 zu 80 % als Reinigungskraft angestellt. Im Oktober 2020 erteilte das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Genehmigung für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung UE/EFTA mit Erwerbstätigkeit für A._ und eine Aufenthaltsbewilligung UE/EFTA für Familiennachzug für ihre Tochter, beide gültig bis zum 31. Mai 2024. Im November 2020 beantragte A._ eine Aufenthaltsbewilligung für Familiennachzug für ihren Sohn.
A._ stellte ihre Erwerbstätigkeit per 1. September 2021 ein. Sie bezog bis Juni 2022 Arbeitslosenentschädigung, wurde danach aber wegen wiederholter Pflichtverletzungen als nicht vermittelbar erklärt. Zwischen Januar 2021 und Dezember 2023 stellte sie drei Anträge auf IV-Leistungen, die ersten beiden wurden abgelehnt. Der dritte Antrag stand im Februar 2024 vor einer Ablehnungsverfügung, da keine Veränderung ihrer Situation festgestellt wurde. Gemäss einer ärztlichen Bescheinigung ist A._ seit dem 1. September 2022 arbeitsunfähig, also über ein Jahr nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses. Ihr Sohn D._ kehrte im Januar 2024 nach B._ zurück. Ihre Tochter C._ leidet an Lernschwierigkeiten und einer Sprachverzögerung. Seit März 2021 bezieht A._ Sozialhilfeleistungen, die sich bis Januar 2025 auf CHF 107'620 beliefen.
Mit Entscheid vom 14. Juli 2023 widerrief der kantonale Dienst die Aufenthaltsbewilligungen von A._ und ihrer Tochter und wies den Antrag für den Sohn ab. Diese Entscheide wurden nach Opposition am 13. Januar 2025 bestätigt und eine neue Ausreisefrist gesetzt. Das Verwaltungsgericht des Kantons Waadt wies den Rekurs der A._ am 27. März 2025 ab.
III. Massgebende Rechtsfragen und rechtliche Argumente
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Zulässigkeit der Beschwerde (Rz. 1)
- Öffentlich-rechtliche Beschwerde (Art. 82 ff. BGG): Grundsätzlich zulässig, wenn ein potenzieller Rechtsanspruch auf eine ausländerrechtliche Bewilligung besteht (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Das Bundesgericht bejahte dies, da die Rekurrentin sich auf das Freizügigkeitsabkommen (FZA) als B.__-Staatsangehörige (originäres Recht, E. 1.2 i.V.m. BGE 136 II 177 E. 1.1) sowie auf ein abgeleitetes Recht ihrer Tochter (E. 1.2 i.V.m. BGE 144 II 113 E. 4.1; 142 II 35 E. 4.2) berufen konnte. Die Frage, ob die Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind, betrifft die Begründetheit.
- Unzulässige Berufungsgründe:
- Schriftwechsel Schweiz-B.__ vom 9. August / 31. Oktober 1989 (E. 1.3): Dieser Schriftwechsel gewährt erst nach einem ununterbrochenen und regulären Aufenthalt von fünf Jahren ein Aufenthaltsrecht. Da die Rekurrentin weniger als fünf Jahre rechtmässig in der Schweiz lebte, konnte sie sich nicht substanziiert darauf berufen.
- Art. 8 EMRK (Recht auf Privatleben) (E. 1.4): Ein Aufenthaltsrecht gestützt auf Art. 8 EMRK setzt in der Regel einen zehnjährigen rechtmässigen Aufenthalt voraus. Eine kürzere Dauer kann nur bei einer besonders erfolgreichen Integration genügen (E. 1.4 i.V.m. BGE 149 I 207 E. 5.3.2, 146 I 185 E. 5.2, 144 I 266 E. 3.9). Angesichts des weniger als fünfjährigen Aufenthalts und des Sozialhilfebezugs seit 2021 verneinte das Bundesgericht eine "aussergewöhnliche Integration" und somit einen substanziierbaren Anspruch aus Art. 8 EMRK.
- Art. 20 OLCP (E. 1.5): Diese Bestimmung verleiht kein Aufenthaltsrecht und fällt unter die Ausnahmen des Art. 83 lit. c Ziff. 5 BGG (Zulassungsbedingungen), weshalb die öffentlich-rechtliche Beschwerde in dieser Hinsicht unzulässig war.
- Subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG) (E. 1.6): Diese wäre zwar für Art. 8 EMRK und Art. 20 OLCP denkbar, jedoch machte die Rekurrentin kein spezifisch geschütztes Rechtsinteresse (Art. 115 Abs. 1 lit. b BGG) oder eine formelle Rechtsverweigerung geltend. Sie war daher auch unter diesem Aspekt unzulässig.
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Verfahrensfragen (Rz. 2-4)
- Aussetzungsbegehren (Rz. 2): Das Gesuch um Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des IV-Amts wurde abgewiesen. Das Bundesgericht hielt fest, dass selbst eine zukünftige Anerkennung der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit durch die IV keinen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens hätte (vgl. Rz. 5.2).
- Beweisanträge (Rz. 3): Beweismassnahmen vor Bundesgericht (Art. 55 BGG) sind nur ausnahmsweise zulässig. Da keine aussergewöhnlichen Umstände dargelegt wurden und die Akten der Vorinstanz ausreichten, wurden die Anträge abgelehnt. Ein "mémoire complémentaire" war mangels Schriftenwechsels obsolet.
- Unvollständige Sachverhaltsfeststellung (Rz. 4): Das Bundesgericht ist grundsätzlich an die von der Vorinstanz festgestellten Tatsachen gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, diese wurden offensichtlich unrichtig oder rechtswidrig festgestellt und die Korrektur ist für den Ausgang des Verfahrens relevant (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Rüge der Rekurrentin, sie habe Anspruch auf Verbleib in der Schweiz wegen Arbeitsunfähigkeit, betraf die Rechtsanwendung und nicht die Sachverhaltsfeststellung. Ihre Behauptung einer "tatsächlichen und effektiven" Erwerbstätigkeit wurde nicht den Anforderungen des Art. 97 Abs. 1 BGG entsprechend begründet und neue Beweismittel (Art. 99 Abs. 1 BGG) waren unzulässig.
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Widerruf der Aufenthaltsbewilligung nach FZA (Rz. 5)
- Das Bundesgericht bestätigte die Argumentation der Vorinstanz, wonach die Rekurrentin ihre Eigenschaft als Arbeitnehmerin im Sinne des FZA verloren hatte (Art. 6 Anhang I FZA i.V.m. Art. 61a AuG). Sie übte seit September 2021 keine "tatsächliche und ernsthafte Erwerbstätigkeit" mehr aus und bezog nur bis Juni 2022 Arbeitslosenentschädigung.
- Dauerhafte Arbeitsunfähigkeit (Art. 4 Anhang I FZA i.V.m. Verordnung (EWG) Nr. 1251/70): Die Rekurrentin konnte sich nicht auf die Bestimmungen berufen, die es Personen erlauben, in der Schweiz zu bleiben, wenn ihre Erwerbstätigkeit infolge dauerhafter Arbeitsunfähigkeit beendet wurde (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Anhang I FZA, Art. 2 Abs. 1 lit. b Verordnung (EWG) Nr. 1251/70).
- Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass das IV-Amt die dauerhafte Arbeitsunfähigkeit der Rekurrentin zweimal abgelehnt hatte und auch der dritte Antrag auf Ablehnung stand.
- Wichtig war die Feststellung, dass die ärztlich attestierte Arbeitsunfähigkeit erst ab September 2022 bestand, also mehr als ein Jahr nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
- Das Bundesgericht bestätigte, dass selbst eine zukünftige Anerkennung der IV die Arbeitsunfähigkeit zu einem Zeitpunkt feststellen würde, der nach dem Verlust der Arbeitnehmereigenschaft lag. Daher waren die Voraussetzungen des Art. 4 Anhang I FZA nicht erfüllt (E. 5.2 i.V.m. BGE 147 II 35 E. 3.3, 141 II 1 E. 4; Urteil 2C_162/2024 vom 30. Januar 2025 E. 6.1).
- Unzureichende finanzielle Mittel (Art. 24 Anhang I FZA): Da die Rekurrentin seit 2021 Sozialhilfe bezog, verfügte sie nicht über ausreichende Mittel im Sinne dieser Bestimmung.
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Abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Tochter (Rz. 6)
- Rechtsgrundlage (E. 6.1): Nach Art. 3 Abs. 6 Anhang I FZA geniessen Kinder eines Staatsangehörigen einer Vertragspartei ein eigenständiges Aufenthaltsrecht im Aufnahmestaat, um ihre Ausbildung zu beenden. Der sorgeberechtigte Elternteil profitiert dann von einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht (E. 6.1 i.V.m. BGE 142 II 35 E. 4.1 und 4.2; 139 II 393 E. 3.3 und 4.2).
- Voraussetzung der Integration: Diese Rechtsprechung setzt voraus, dass das Kind bereits im Aufnahmestaat integriert ist, was bei Kleinkindern in der Regel verneint wird (E. 6.1 i.V.m. BGE 139 II 393 E. 4.2.2; Urteile 2C_621/2021 vom 27. Juli 2022 E. 7.1; 2C_631/2023 vom 13. September 2024 E. 5.1; 2C_19/2021 vom 21. Mai 2021 E. 4.3.1).
- Kindeswohl (Art. 3 KRK) (E. 6.2): Das Kindeswohl (Art. 3 KRK) ist zwar zu berücksichtigen (E. 6.2 i.V.m. BGE 151 I 62 E. 4.3, 150 I 93 E. 6.7.1, 146 IV 267 E. 3.3.1), verleiht aber kein eigenständiges Aufenthaltsrecht (E. 6.2 i.V.m. BGE 144 II 56 E. 5.2; 144 I 91 E. 5.2).
- Anwendung im vorliegenden Fall (E. 6.3): Die Tochter der Rekurrentin, sieben Jahre alt, befand sich am allerersten Anfang ihrer obligatorischen Schulzeit in der Schweiz. Das Bundesgericht befand, dass sie keine Schwierigkeiten haben sollte, sich in das Schulsystem ihres Herkunftslandes B._ zu integrieren, das über adäquate Mittel zur Förderung von Kindern mit Lernschwierigkeiten oder Sprachverzögerungen verfüge. Die Rückführung nach B._, wo die Tochter geboren wurde und ihr Bruder lebt, widerspreche auch nicht ihrem Kindeswohl im Sinne von Art. 3 KRK. Folglich wurde weder ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Tochter noch ein davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Rekurrentin bejaht.
IV. Fazit und abschliessende Bemerkungen
Das Bundesgericht gelangte zum Schluss, dass die öffentlich-rechtliche Beschwerde offensichtlich unbegründet sei und wies sie im vereinfachten Verfahren gemäss Art. 109 Abs. 2 lit. a BGG ab. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde war unzulässig. Angesichts der Situation der Rekurrentin wurden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 1 BGG), womit auch das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos wurde. Es wurden keine Parteientschädigungen zugesprochen (Art. 68 Abs. 1 und 3 BGG).
V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Keine Arbeitnehmereigenschaft: Die Rekurrentin hatte ihre Eigenschaft als Arbeitnehmerin im Sinne des FZA verloren, da sie keine tatsächliche und ernsthafte Erwerbstätigkeit mehr ausübte.
- Kein Anspruch wegen Arbeitsunfähigkeit: Die geltend gemachte Arbeitsunfähigkeit trat nach dem Verlust der Arbeitnehmereigenschaft ein und konnte daher keinen Anspruch auf Verbleib in der Schweiz nach FZA begründen.
- Keine ausreichenden Mittel: Der Bezug von Sozialhilfeleistungen seit 2021 widerspricht der Anforderung ausreichender finanzieller Mittel nach dem FZA.
- Kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht über die Tochter: Die siebenjährige Tochter befand sich erst am Anfang ihrer Schulzeit; es wurde keine Integration bejaht, die ein eigenständiges Aufenthaltsrecht begründen würde. Die Rückführung ins Herkunftsland wurde nicht als kindeswohlschädlich erachtet.
- Unzulässigkeit anderer Rechtsgrundlagen: Ansprüche aus dem Schriftwechsel Schweiz-B.__, Art. 8 EMRK oder Art. 20 OLCP wurden als nicht substanziierbar oder unzulässig erachtet.