Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_61/2024 vom 4. August 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 2C_61/2024 vom 4. August 2025 detailliert zusammen.

I. Einleitung Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts betrifft die Beschwerde eines italienischen Staatsbürgers (A.__) gegen den Widerruf seiner Niederlassungsbewilligung EU/EFTA durch die kantonalen Behörden des Kantons Tessin. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung des Widerrufsentscheids, da er die Voraussetzungen für einen Widerruf nach nationalem Recht und die Konformität mit dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) sowie dem Verhältnismässigkeitsprinzip als nicht gegeben erachtete.

II. Sachverhalt Der 1969 geborene italienische Staatsangehörige A._ reiste am 1. Juli 2004 in die Schweiz ein und erhielt eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA zur Ausübung einer abhängigen Erwerbstätigkeit. Im Jahr 2007 wurde er Vater einer Tochter (B._), die mit ihrer Mutter in der Schweiz lebt. Die elterliche Sorge wird von beiden Elternteilen gemeinsam ausgeübt, wobei die Eltern seit 2011 getrennt leben, jedoch weiterhin enge Kontakte pflegen.

Die strafrechtliche Vorgeschichte des Beschwerdeführers ist massgebend: * 14. April 2003 (Italien): Verurteilung wegen fortgesetzter und bandenmässiger Hehlerei zu drei Jahren Freiheitsstrafe und 2'000 Euro Busse (Strafen später bedingt vollzogen und durch Indult aufgehoben). Diese Verurteilung erfolgte vor seiner Einreise in die Schweiz. * 26. Februar 2009 (Italien): Verurteilung wegen fortgesetzten und bandenmässigen, unerlaubten Betäubungsmittelhandels sowie Beteiligung an einer Organisation für unerlaubten Betäubungsmittelhandel zu drei Jahren Freiheitsstrafe und 10'000 Euro Busse (teilweise durch Indult aufgehoben). Diese Verurteilung erfolgte nach seiner Einreise in die Schweiz, jedoch vor der Erteilung der Niederlassungsbewilligung. * 9. März 2023 (Schweiz): Verurteilung durch das Kriminalgericht Lugano wegen qualifizierter Geldwäscherei (gewerbsmässig, bezogen auf 4'134'513.50 CHF aus Drogenhandel) und qualifiziertem Steuerbetrug (2007-2008). Es wurde eine bedingte Freiheitsstrafe von 12 Monaten und eine bedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 70 CHF verhängt. Die Delikte wurden zwischen 2008 und 2009 begangen.

Am 1. Juli 2009 erhielt A.__ eine Niederlassungsbewilligung EU/EFTA. Bei der Beantragung dieser Bewilligung legte er eine italienische Strafregisterbescheinigung vor, welche die Verurteilung vom 26. Februar 2009 nicht enthielt, obwohl diese zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig war.

Im Januar 2018 leitete die Sektion für Bevölkerung des Departements der Institutionen des Kantons Tessin Abklärungen ein. Dabei wurde die verschwiegene italienische Verurteilung vom 26. Februar 2009 festgestellt. Zudem wies der Beschwerdeführer eine erhebliche Verschuldung auf: Betreibungen von 21'339.40 CHF, Pfändungsexekutionen von 457'256.35 CHF und 20 Verlustscheine über 2'920'392.85 CHF. Auch im Bereich der Staats- und Bundessteuern bestanden erhebliche Schulden, die grösstenteils zu Verlustscheinen führten.

Gestützt auf diese Umstände, insbesondere die weitere Verschlechterung der Schuldensituation und die anhängigen Strafverfahren, widerrief die Tessiner Migrationsbehörde mit Entscheid vom 10. September 2018 die Niederlassungsbewilligung EU/EFTA des Beschwerdeführers und setzte ihm eine Frist zur Ausreise. Die Hauptbegründung für den Widerruf lag in der Verschweigung der Verurteilung von 2009 sowie in Gründen der öffentlichen Ordnung. Dieser Entscheid wurde vom Staatsrat (2. Oktober 2019) und vom Verwaltungsgericht des Kantons Tessin (6. Dezember 2023) bestätigt.

III. Rechtliche Grundlagen und Erwägungen des Bundesgerichts

1. Anwendbares Recht Da der Widerrufsentscheid am 10. September 2018 erging, ist das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (aAuG; ehemals LStr, heute AIG) in seiner vor dem 1. Januar 2019 gültigen Fassung anwendbar (Art. 126 Abs. 1 AIG).

2. Widerrufsgründe nach nationalem Recht (aAuG) Gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. a aAuG kann eine Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn der Ausländer im Bewilligungsverfahren falsche Angaben gemacht oder wesentliche Tatsachen verschwiegen hat. Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. b aAuG nennt als weiteren Widerrufsgrund eine Verurteilung zu einer "langfristigen Freiheitsstrafe" (d.h. zu mehr als einem Jahr). Art. 63 Abs. 1 lit. b aAuG ermöglicht einen Widerruf, wenn die öffentliche Ordnung und Sicherheit in der Schweiz oder im Ausland schwerwiegend gefährdet oder verletzt wurde. Eine bedingte oder teilbedingte Strafe ist dabei unerheblich.

3. Prüfung der Widerrufsgründe durch das Bundesgericht

3.1. Korrektur der Begründung der Vorinstanz Das kantonale Verwaltungsgericht hatte den Widerruf insbesondere auf Art. 62 Abs. 1 lit. b aAuG gestützt, da die kumulierten Strafen der Verurteilung vom 9. März 2023 "knapp über dem Limit von einem Jahr" lägen. Das Bundesgericht stellt klar, dass dies nicht korrekt ist: Die einzige Freiheitsstrafe aus der Verurteilung von 2023 war eine bedingte Strafe von 12 Monaten. Eine "langfristige Freiheitsstrafe" im Sinne von Art. 62 Abs. 1 lit. b aAuG liegt aber erst bei einer Strafe von mehr als einem Jahr vor (BGE 146 II 321 E. 3.1). Somit entfällt dieser spezifische Widerrufsgrund als Basis für den kantonalen Entscheid.

3.2. Substitution der rechtlichen Begründung durch das Bundesgericht Das Bundesgericht ist jedoch nicht an die rechtliche Begründung der Vorinstanz gebunden. Es stellt fest, dass ein anderer Widerrufsgrund nach nationalem Recht erfüllt ist: Gemäss Art. 62 Abs. 1 lit. a aAuG hat der Beschwerdeführer die Migrationsbehörden bei der Beantragung seiner Niederlassungsbewilligung im Jahr 2009 getäuscht, indem er die Existenz der Verurteilung durch das Berufungsgericht Bari vom 26. Februar 2009 verschwieg. Diese Verurteilung wegen Drogenhandels und Beteiligung an einer kriminellen Organisation stellte eine wesentliche Tatsache dar. Folglich ist der Widerrufsgrund der Falschangaben bzw. des Verschweigens wesentlicher Tatsachen erfüllt.

4. Anforderungen des Freizügigkeitsabkommens (FZA) Da es sich um eine Niederlassungsbewilligung EU/EFTA handelt, müssen zusätzlich zu den nationalen Widerrufsgründen die Anforderungen von Art. 5 Anhang I FZA beachtet werden. Dieser besagt, dass Rechte aus dem Abkommen nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit eingeschränkt werden dürfen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts, orientiert an der EU-Rechtsprechung (Richtlinie 64/221/EWG), verlangt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die von der betroffenen Person ausgeht. Eine Verurteilung kann einen solchen Widerruf nur rechtfertigen, wenn die Umstände der Tat ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine aktuelle Bedrohung für die öffentliche Ordnung impliziert. Eine rein präventive oder dissuasive Massnahme ist ausgeschlossen. Die Schwere der potenziellen Straftat beeinflusst das Mass der Anforderungen an die Wiederholungsgefahr: Bei schwerwiegenden Delikten (z.B. organisierte Kriminalität, qualifizierter Drogenhandel) sind die Anforderungen an das Rückfallrisiko geringer (BGE 139 II 121 E. 5.3; 136 II 5 E. 4.2 ff.).

4.1. Prüfung der FZA-Konformität im vorliegenden Fall Das Bundesgericht teilt die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass der Beschwerdeführer weiterhin eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die Gesellschaft darstellt: * Abfolge und Schwere der Delikte: Die Verurteilungen von 2003, 2009 und 2023 zeigen eine Kette schwerwiegender Delikte. Die italienischen Verurteilungen (Hehlerei, Drogenhandel in bandenmässiger Form) sind ernst. Die jüngste Verurteilung in der Schweiz (qualifizierte Geldwäscherei von über 4 Mio. CHF aus Drogenhandel, qualifizierter Steuerbetrug) bestätigt eine "erhebliche Delinquenzneigung", die sich auch im Erwachsenenalter manifestiert hat. * Keine Verbesserung trotz Zeitablauf: Das Argument des Beschwerdeführers, die Delikte lägen lange zurück, wird zurückgewiesen. Der Zeitablauf ist nur ein Faktor. Bei wiederholten Rechtsverletzungen ist die Gesamtsituation zu würdigen. Die Delikte wurden in "eher langen, aber regelmässigen Abständen" begangen, ohne Anzeichen einer Besserung. * Besondere Bedeutung von Drogenhandel und Geldwäscherei: Delikte im Bereich des unerlaubten Betäubungsmittelhandels haben im Kontext des FZA ein besonderes Gewicht (Urteil 2C_555/2021 E. 5.2). Die gewerbsmässige Geldwäscherei in Verbindung mit Drogenhandel ist besonders schwerwiegend. * Weitere verstärkende Indizien: * Berufliche Tätigkeit und Delinquenz: Die Geldwäscherei wurde trotz oder gerade aufgrund seiner Tätigkeit als Geldwechsler begangen, was das Argument der Integration durch Arbeit relativiert. * Laufende Verfahren: Sein Verhalten war während der anhängigen Straf- und Widerrufsverfahren nicht beanstandungsfrei. * Massive Verschuldung: Die festgestellte prekäre Schuldensituation (über 1.9 Mio. CHF offene Betreibungen, über 5.7 Mio. CHF Verlustscheine) ist besorgniserregend und spricht ebenfalls gegen eine gute Integration. * Verschweigen der Vorstrafe: Auch wenn das Verschweigen der Verurteilung von 2009 allein keine konkrete, die Wiederholungsgefahr belegende Bedrohung darstellt, so ist es doch ein Indiz und darf in die Gesamtbeurteilung einbezogen werden.

Angesichts der Schwere, der Wiederholung und der Art der Delikte, sowie der weiteren Umstände, bejaht das Bundesgericht das Vorliegen einer tatsächlichen und hinreichend schweren Bedrohung der öffentlichen Ordnung.

5. Verhältnismässigkeitsprüfung (Art. 96 aAuG, Art. 8 EMRK) Trotz des Vorliegens von Widerrufsgründen muss die Massnahme verhältnismässig sein. Dabei sind die öffentlichen Interessen gegen die privaten und familiären Interessen des Betroffenen abzuwägen. Der Beschwerdeführer beruft sich auf sein Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) im Hinblick auf seine Tochter und seine sozialen Beziehungen in der Schweiz. * Öffentliche Interessen: Dem langen Aufenthalt des Beschwerdeführers in der Schweiz (seit 2004) stehen seine wiederholten, schwerwiegenden Straftaten entgegen, insbesondere die qualifizierte Geldwäscherei und der qualifizierte Steuerbetrug, die nach seinem Zuzug in die Schweiz begangen wurden. Grossflächiger Drogenhandel und damit verbundene Delikte begründen ein erhebliches öffentliches Interesse an der Entfernung des Täters, auch bei Langzeitaufenthaltern. * Integration: Seine Integration wird durch die Delinquenz, die auch im Erwachsenenalter und nach dem Umzug in die Schweiz fortgesetzt wurde, sowie durch seine massive Verschuldung stark in Frage gestellt. * Private und familiäre Interessen / Zumutbarkeit der Rückkehr: Ein Transfer nach Italien erfordert zwar eine Anpassungsphase, ist aber nicht unzumutbar. Der Beschwerdeführer hat bis zum Alter von 35 Jahren in Italien gelebt und ist mit der dortigen Kultur und Lebensweise vertraut, die sich nicht wesentlich von der im Tessin unterscheidet. Eine Ansiedlung in Grenznähe würde es ihm ermöglichen, sowohl seine sozialen Kontakte in der Schweiz als auch den regelmässigen Kontakt zu seiner Tochter aufrechtzuerhalten, welche seit 2011 bei der Mutter lebt. Spezifische, über die üblichen Unannehmlichkeiten hinausgehende Schwierigkeiten bei einer Rückkehr werden nicht dargelegt.

Die Abwägung ergibt, dass die öffentlichen Interessen an der Ausweisung des Beschwerdeführers seine privaten und familiären Interessen überwiegen. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung ist daher verhältnismässig.

IV. Fazit Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Obwohl es die vom kantonalen Gericht herangezogene Begründung der "langfristigen Freiheitsstrafe" korrigiert, bestätigt es den Widerruf der Niederlassungsbewilligung aufgrund des Verschweigens wesentlicher Tatsachen bei der Beantragung sowie der Erfüllung der Kriterien einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung der öffentlichen Ordnung gemäss Art. 5 Anhang I FZA. Die Verhältnismässigkeit der Massnahme wird angesichts der Schwere der Delikte, der wiederholten Delinquenz und der hohen Verschuldung bejaht, wobei die Möglichkeit des Kontakts zur Familie von Grenznähe aus betont wird.

V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte 1. Widerrufsrechtliche Grundlage: Das Bundesgericht korrigiert die Vorinstanz bezüglich des Widerrufsgrundes "langfristige Freiheitsstrafe", bejaht aber den Widerruf aufgrund des Verschweigens wesentlicher Tatsachen (Verurteilung 2009) bei der Beantragung der Niederlassungsbewilligung. 2. FZA-Konformität: Es wird eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung gemäss Art. 5 Anhang I FZA bejaht. Dies aufgrund der wiederholten, schwerwiegenden Delinquenz (Drogenhandel, Geldwäscherei, Steuerbetrug) über einen längeren Zeitraum ohne Besserung, einer massiven Verschuldung und der Bedeutung der Delikte. 3. Verhältnismässigkeit: Der Widerruf wird als verhältnismässig erachtet. Das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiegt die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers, da die Integration aufgrund der Straftaten und Schulden als fragwürdig gilt und eine Rückkehr nach Italien, insbesondere in Grenznähe, als zumutbar erachtet wird, um den Kontakt zur Tochter und das Privatleben aufrechtzuerhalten.