Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (BGer 6B_857/2024 vom 7. Juli 2025) detailliert zusammen:
Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_857/2024)
1. Einleitung und Verfahrensgeschichte
Das Urteil betrifft einen gemeinsamen Rekurs von zehn Beschwerdeführenden gegen ein Urteil des Cour d'appel pénale du Tribunal cantonal vaudois (kantonales Appellationsgericht) vom 19. Juni 2024. Die Beschwerdeführenden wurden ursprünglich vom Polizeigericht des Kreises Lausanne am 11. Februar 2022 wegen Behinderung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Art. 239 Ziff. 1 StGB), Verhinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB), einfacher Verletzung der Strassenverkehrsregeln (Art. 90 Abs. 1 SVG) und Übertretung des waadtländischen Übertretungsgesetzes (LContr) verurteilt. Die Strafen bestanden aus bedingten Geldstrafen und Bussen.
Nachdem das kantonale Appellationsgericht diese Verurteilungen am 14. September 2022 im Wesentlichen bestätigt hatte, hob das Bundesgericht (BGer 6B_1436/2022 vom 19. Oktober 2023) dieses Urteil auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück. Grund war eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführenden hinsichtlich der Begründung der Ablehnung ihrer Beweisanträge (insbesondere betreffend Polizeiakten und Gemeindeakten).
In seiner erneuten Entscheidung vom 19. Juni 2024 sprach das kantonale Appellationsgericht die Beschwerdeführenden von der Übertretung des LContr frei, bestätigte jedoch die Schuldsprüche wegen Behinderung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, Verhinderung einer Amtshandlung und einfacher Verletzung der Strassenverkehrsregeln. Die Strafen wurden entsprechend angepasst und leicht reduziert.
2. Sachverhalt (dem Urteil des Bundesgerichts zugrunde gelegt)
Die Verurteilungen basieren auf folgenden, vom kantonalen Gericht festgestellten und vom Bundesgericht im Wesentlichen als verbindlich erachteten Tatsachen:
Am 14. Dezember 2019, zwischen 10:05 und 15:55 Uhr, blockierten mehrere Personen, darunter die zehn Beschwerdeführenden, ohne vorherige Bewilligung die Rue Centrale in Lausanne. Sie setzten sich auf die Fahrbahn, skandierten Slogans und blockierten den Verkehr, einschliesslich Rettungsfahrzeugen und Bussen. Die Polizei forderte die Demonstranten mehrfach auf, den Ort zu verlassen. Nachdem dies ignoriert wurde, wurden sie von den Polizisten einzeln gewaltsam geräumt, wobei die Beschwerdeführenden physischen Widerstand leisteten, indem sie sich aneinander festhielten.
Die Manifestation wurde vom Bewegung Extinction Rebellion über soziale Netzwerke organisiert und sollte ursprünglich auf der Place Saint-François stattfinden. Obwohl keine förmliche Bewilligung beantragt wurde, informierten die Organisatoren die öffentlichen Verkehrsbetriebe (TL) über ihre Absicht. Aufgrund der Präsenz der Polizei auf der Place Saint-François verlagerten die Demonstranten die Aktion kurzfristig auf die Rue Centrale, wo sie die Fahrbahn mit Betonblöcken und Holzpaletten absperrten.
Die Blockade führte zu erheblichen Verkehrsbehinderungen. Eine Ambulanz, die zu einem Herznotfall gerufen wurde, musste einen längeren Umweg fahren, was die Interventionszeit verlängerte. Der Verkehr der TL wurde ab 10:55 Uhr unterbrochen und es kam zu Verspätungen von 30 bis 40 Minuten. Die Rue Centrale war von 10:05 bis 16:18 Uhr vollständig gesperrt, wodurch 88 Busse betroffen waren. Insgesamt wurden 90 Personen festgenommen.
3. Rechtliche Würdigung der Rügen durch das Bundesgericht
Das Bundesgericht prüfte die vorgebrachten Rügen der Beschwerdeführenden detailliert:
3.1. Recht auf Gehör, Untersuchungsmaxime, Beweisrecht und Konfrontationsrecht (Rüge 1)
Die Beschwerdeführenden rügten die Ablehnung weiterer Beweisanträge sowie eine Verletzung der Untersuchungsmaxime, ihres Beweisrechts und des Konfrontationsrechts.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 29 Abs. 2 BV (rechtliches Gehör, relevante Beweise), Art. 389 Abs. 1 und 3 StPO (Revisionsverfahren, ergänzende Beweise), Art. 107 Abs. 1 lit. e StPO (Recht auf Beweisanträge), Art. 139 Abs. 2 StPO (keine Erhebung von irrelevanten, notorischen, bekannten oder bereits bewiesenen Tatsachen), Art. 6 StPO (Untersuchungsmaxime, keine Pflicht zu neuen Beweisen, wenn bereits Überzeugung gebildet), Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK / Art. 32 Abs. 2 BV (Konfrontationsrecht bei entscheidenden Zeugenaussagen). Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG / Art. 9 BV (Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung).
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführenden die vorinstanzliche antizipierte Beweiswürdigung nicht gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG als willkürlich dargelegt haben. Die frühere Rückweisung durch das Bundesgericht erfolgte lediglich wegen eines Begründungsmangels und nicht, weil die Beweisanträge als relevant erachtet wurden.
Hinsichtlich des Konfrontationsrechts hielt das Bundesgericht fest, dass die Autoren der von der Vorinstanz beigezogenen Berichte (ein Gemeinderat und ein Polizist) nicht als Zeugen im Sinne der Art. 162 ff. StPO tätig waren, sondern im Rahmen ihrer öffentlichen Funktion Auskünfte erteilten (Art. 195 Abs. 1 StPO). Ihre schriftlichen Ausführungen stellten keine Zeugenaussagen dar, da sie objektiv und allgemein gehalten waren und keine direkten Anschuldigungen enthielten. Das Konfrontationsrecht ist in diesem Kontext nicht anwendbar. Zudem hätten die Beschwerdeführenden nicht konkretisiert, zu welchen spezifischen Punkten sie die genannten Personen hätten befragen wollen.
- Entscheid: Die Rüge wird als unzulässig, bzw. unbegründet abgewiesen.
3.2. Öffentlichkeitsprinzip der Verhandlung (Rüge 2)
Die Beschwerdeführenden beklagten eine Verletzung des Öffentlichkeitsprinzips (Art. 30 BV, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 69 StPO), da nicht alle interessierten Personen aufgrund der geringen Grösse des Gerichtssaales an der Verhandlung teilnehmen konnten.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 14 UNO-Pakt II, Art. 30 Abs. 3 BV (Öffentlichkeit der Rechtspflege). Art. 69 StPO (öffentliche Verhandlungen). Art. 70 StPO (Beschränkung der Öffentlichkeit bei grosser Zuhörerschaft). Das Öffentlichkeitsprinzip ist nicht absolut und muss nicht in allen Instanzen vollumfänglich gewahrt sein, solange es mindestens in einer Instanz mit voller Überprüfungsbefugnis eingehalten wird (BGE 147 IV 297 E. 1.2.1; BGE 143 I 194 E. 3.1).
- Begründung des Bundesgerichts: Die Rüge wurde vom kantonalen Gericht nicht behandelt. Die Beschwerdeführenden hatten bereits einen Monat vor der Verhandlung Kenntnis von der Grösse des Gerichtssaals und der möglichen Platzknappheit, haben dies jedoch weder sofort noch an der Verhandlung gerügt. Die Rüge ist daher wegen mangelnder Erschöpfung des Instanzenzugs und nicht fristgerechter Rüge unzulässig.
Selbst wenn die Rüge zulässig wäre, wurde die Öffentlichkeit durch die Anwesenheit von mindestens sechs bis sieben Personen aus dem Publikum sowie den Parteien gewahrt. Die Beschwerdeführenden konnten nicht darlegen, inwiefern die Nichtzulassung eines grösseren Publikums den Debatten den "geheimen und undemokratischen Charakter" verliehen hätte. Zudem ist nicht dargelegt, dass die erstinstanzlichen Verhandlungen nicht öffentlich waren. Angesichts der eher geringen Strafen und der Komplexität des Falles wäre eine vollständige Aufhebung des Verfahrens wegen einer solchen "Verfahrensmangels" unverhältnismässig und würde das Verfahren unnötig verlängern.
- Entscheid: Die Rüge wird als unzulässig, bzw. unbegründet abgewiesen.
3.3. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Rüge 3)
Die Beschwerdeführenden rügten eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung, indem das kantonale Gericht angenommen habe, die Behörden seien nicht über die Demonstration vom 14. Dezember 2019 informiert worden. Sie behaupteten, Datum, Uhrzeit und Ort seien öffentlich und den Behörden mehrfach mitgeteilt worden. Der Wechsel des Demonstrationsortes sei erfolgt, weil die Polizei den ursprünglich geplanten Ort (Place Saint-François) abgeriegelt hatte.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 105 Abs. 1 BGG (Bindung an den Sachverhalt), Art. 97 Abs. 1 BGG (Willkür). Art. 11 EMRK (positive Pflichten nur für legale Demonstrationen).
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht wies die Rüge als unzulässig ab, da die Beschwerdeführenden keine Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung dargelegt haben. Die Demonstration fand unstreitig nicht vollständig am ursprünglich angekündigten Ort statt und der kurzfristige Wechsel des Ortes in die Rue Centrale (eine Verkehrsachse gegenüber einer Fussgängerzone) sowie das Fehlen präziser Angaben zu Dauer und Route waren entscheidend. Das Bundesgericht betonte, dass die positiven Pflichten aus Art. 11 EMRK nur für legale Demonstrationen gelten, was hier aufgrund fehlender Bewilligung nicht der Fall war.
- Entscheid: Die Rüge wird als unzulässig abgewiesen.
3.4. Behinderung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Art. 239 Ziff. 1 StGB) (Rüge 4)
Die Beschwerdeführenden bestritten die Erfüllung des objektiven Tatbestands der Behinderung und des subjektiven Tatbestands des Vorsatzes.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 239 Ziff. 1 StGB (Wer vorsätzlich den Betrieb eines öffentlichen Transport- oder Kommunikationsunternehmens oder einer Anstalt, welche die Bevölkerung mit Wasser, Licht, Kraft oder Wärme versorgt, verhindert, stört oder gefährdet). Schutzgut ist das öffentliche Interesse an einer störungsfreien Dienstleistungserbringung (BGE 116 IV 44 E. 2a). Erfordert eine gewisse Intensität und Dauer der Störung.
- Begründung des Bundesgerichts:
- Objektiver Tatbestand: Die TL sind unbestreitbar ein öffentliches Verkehrsunternehmen. Die Blockade verhinderte die normale Nutzung der Linien 22 und 60 auf der Rue Centrale für 6 Stunden, was eine Störung im Sinne von Art. 239 StGB darstellt. Die Einrichtung von Umleitungen schliesst eine Störung nicht aus, sondern ist Ausdruck davon.
Die Störung war von ausreichender Intensität und Dauer: Die Blockade dauerte mindestens sechs Stunden (10:05-16:06 Uhr), betraf 88 Busse im Stadtzentrum während der Weihnachtszeit und hatte erhebliche Auswirkungen auf eine nicht unerhebliche Anzahl von Nutzern. Eine Störung von anderthalb Stunden wurde bereits als erheblich erachtet (BGE 116 IV 44 E. 2d).
- Subjektiver Tatbestand: Der Sachverhalt zeigt, dass die Beschwerdeführenden "absichtlich den Verkehr blockieren" wollten, auch mit Betonblöcken und Holzpaletten, und "absichtlich verhinderten, dass die Behörden die notwendigen Massnahmen ergreifen konnten". Sie hätten die Möglichkeit gehabt, ihre Aktion auf der Place Saint-François fortzusetzen. Dies belegt zumindest Eventualvorsatz.
- Entscheid: Die Rüge wird abgewiesen.
3.5. Idealkonkurrenz von Art. 239 StGB und Art. 90 Abs. 1 SVG (Rüge 5)
Die Beschwerdeführenden argumentierten, dass Art. 239 StGB Art. 90 Abs. 1 SVG absorbieren sollte, da der gleiche Akt die Zirkulation und die Dienste von allgemeinem Interesse behindere.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 49 Abs. 1 StGB (Idealkonkurrenz: bei mehreren Delikten durch eine Handlung wird die schwerste Strafe angemessen erhöht). Idealkonkurrenz, wenn Schutzgüter sich nicht oder nicht vollständig überlappen (BGE 133 IV 297 E. 4.1).
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte die Idealkonkurrenz.
- Art. 239 StGB schützt das öffentliche Interesse an der störungsfreien Erbringung von Dienstleistungen durch bestimmte Unternehmen (hier: TL).
- Art. 90 Abs. 1 SVG schützt die Flüssigkeit des Verkehrs und die Sicherheit auf öffentlichen Strassen.
- Die Schutzgüter unterscheiden sich: Art. 239 StGB schützt die Nutzer der TL und die TL selbst, während Art. 90 Abs. 1 SVG die allgemeinen Strassenbenutzer schützt. Die geschützten Personenkreise überschneiden sich nur teilweise.
- Der Schutzbereich ist unterschiedlich: Art. 90 Abs. 1 SVG ist auf den öffentlichen Strassenverkehr beschränkt, während Art. 239 StGB dies nicht ist (der Betrieb eines Transportunternehmens kann auch ausserhalb öffentlicher Strassen gestört werden).
- Es ist möglich, entweder nur die Dienste eines öffentlichen Transportunternehmens (z.B. Blockade einer Busspur) oder nur den Strassenverkehr (z.B. Blockade einer Strasse ohne öffentlichen Verkehr) zu behindern.
- Entscheid: Die Rüge wird abgewiesen.
3.6. Verhinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) (Rüge 6)
Die Beschwerdeführenden argumentierten, der polizeiliche Räumungsbefehl sei unrechtmässig gewesen, da die Behörden eine positive Verpflichtung gehabt hätten, die Ausübung der friedlichen Versammlungsfreiheit zu erleichtern.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 11 EMRK (positive Pflichten nur für legale Demonstrationen).
- Begründung des Bundesgerichts: Wie bereits in Rüge 3 festgestellt, gelten die positiven Pflichten aus Art. 11 EMRK nur für legale Demonstrationen. Die vorliegende Demonstration war unbewilligt.
- Entscheid: Die Rüge wird abgewiesen. Eine detailliertere Prüfung erfolgt im Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit.
3.7. Versammlungs- und Meinungsfreiheit (Art. 11 EMRK, 22 BV / Art. 10 EMRK, 16 BV) (Rüge 7)
Die Beschwerdeführenden machten geltend, ihre Verurteilung verletze ihre Versammlungs- und Meinungsfreiheit.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 16 BV, Art. 10 Abs. 1 EMRK (Meinungsfreiheit). Art. 22 BV, Art. 11 Abs. 1 EMRK (Versammlungsfreiheit, vergleichbare Garantien). Einschränkungen von Grundrechten müssen auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen (Art. 36 Abs. 1 BV), durch ein öffentliches Interesse oder den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein (Art. 36 Abs. 2 BV) und verhältnismässig sein (Art. 36 Abs. 3 BV / Art. 10 Abs. 2, 11 Abs. 2 EMRK: "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig").
- Begründung des Bundesgerichts:
- Anwendbarkeit: Die Verurteilung stellt einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Das gezielte Blockieren einer Verkehrsachse als Hauptzweck der Aktion fällt jedoch nicht in den Kernbereich der Meinungsfreiheit. Art. 22 BV und Art. 11 EMRK sind anwendbar, allenfalls unter Berücksichtigung von Art. 16 BV und Art. 10 EMRK.
- Gesetzliche Grundlage: Die Beschwerdeführenden rügten, Art. 286 StGB sei nicht präzise genug für "Amtshandlung" und nicht für unbewilligte Demonstrationen gedacht. Das Bundesgericht widersprach: Die Verurteilung erfolgte nicht wegen der Teilnahme an der unbewilligten Demonstration per se, sondern wegen spezifischen Verhaltensweisen (Nicht-Folgeleisten von Anordnungen, physischer Widerstand, "Totstellen"). Art. 286 StGB sei in der Praxis für solche Verhaltensweisen im Rahmen unbewilligter Demonstrationen hinreichend vorhersehbar und die Rüge der mangelnden gesetzlichen Grundlage sei unbegründet.
- Legitimes Ziel: Die Rüge, dass kein legitimes Ziel verfolgt wurde, wurde nicht substantiiert. Das Bundesgericht bejahte dies: öffentliche Sicherheit (Verkehrssicherheit, Sicherheit der sich bewegenden Personen), Aufrechterhaltung der Ordnung (unbewilligte Demonstration) und Schutz der Rechte Dritter (Recht auf ungehinderte Fortbewegung).
- Verhältnismässigkeit ("Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft"):
- Autorisationssystem: Ein Bewilligungssystem ist grundsätzlich zulässig. Sanktionen für unbewilligte Demonstrationen sind notwendig, um das System nicht illusorisch zu machen.
- Toleranzgrenzen: Zwar müssen Behörden bei friedlichen, unbewilligten Versammlungen eine gewisse Toleranz zeigen, aber diese endet, wenn die Teilnehmer "verwerfliche Handlungen" begehen, die über das normale Mass der Störung hinausgehen (BGE 149 IV 217 E. 1.3.8; EMRK Kudrevicius u.a., § 173-174).
- Konkrete Umstände:
- Die Verurteilung betraf nicht die blosse Teilnahme an der unbewilligten Demo, sondern konkrete Straftaten. Die "Toleranz" der Polizei bezog sich auf die Demo selbst, nicht auf dabei begangene Straftaten.
- Die Beschwerdeführenden haben wissentlich an einer unbewilligten Demonstration teilgenommen, obwohl eine Bewilligung möglich gewesen wäre und andere legitime Mittel zur Interessenwahrung (z.B. demokratische Instrumente wie Initiativen und Referenden) zur Verfügung standen. Die Klimafrage ist zudem weithin bekannt.
- Der Wille zur Blockade war zentral (Extinction Rebellion, ziviler Ungehorsam). Die Blockade war Hauptziel, nicht indirekte Folge. Der blockierte Gegenstand (Strasse) stand in keinem direkten Zusammenhang mit der Klimaproblematik. Rettungsdienste wurden behindert. Absichtliche Störung, die über das "unvermeidbare Unannehmlichkeiten" hinausgeht, rechtfertigt Sanktionen (EMRK Drieman u.a., Kudrevicius u.a. § 156).
- Ausmass der Störung: Die Blockade dauerte über 6 Stunden im Stadtzentrum an einem Adventssamstag, was zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führte (88 Busse betroffen). Eine vollständige Strassensperrung geht "offenbar über die blosse durch jede Demonstration auf öffentlicher Strasse verursachte Belästigung hinaus" (EMRK Barraco, § 46).
- Verhalten der Behörden: Die Polizei zeigte Toleranz, indem sie nicht sofort eingriff und nach Warnungen handelte. Die verhängten Sanktionen (bedingte Geldstrafen und Bussen) waren verhältnismässig milde.
- Ortswechsel: Der kurzfristige, unbegründete Ortswechsel von der Place Saint-François (wo die Polizei auf eine Demonstration vorbereitet war) zur Rue Centrale diente allein dem Zweck, die Blockade zu ermöglichen. Dieses Verhalten geniesst nicht den bevorzugten Schutz von Art. 11 EMRK.
- Entscheid: Die Rüge wird abgewiesen. Die strafrechtlichen Sanktionen sind ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den legitimen Zielen (öffentliche Sicherheit, Ordnung, Schutz Dritter) und der Versammlungsfreiheit.
3.8. Strafmilderung wegen ehrenwerten Motivs (Art. 48 lit. a Ziff. 1 StGB) / Verzicht auf Bestrafung (Art. 52 StGB) (Rüge 8)
Die Beschwerdeführenden beantragten eine Strafmilderung nach Art. 48 lit. a Ziff. 1 StGB (ehrenwertes Motiv) oder gar einen Strafverzicht nach Art. 52 StGB, da ihre Handlungen gewaltlos und ihr Motiv "ehrenhaft, weil altruistisch" gewesen sei.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 52 StGB (Strafverzicht bei geringer Schuld und Folgen). Art. 48 lit. a Ziff. 1 StGB (Strafmilderung bei ehrenwertem Motiv). Die Bestimmung der Motive ist Tatsachenfrage, ob diese ehrenwert sind, ist Rechtsfrage (BGE 149 IV 217 E. 1.3.1).
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte die Vorinstanz. Obwohl die Beschwerdeführenden aus aufrichtiger Überzeugung für eine ideale Sache handelten, verstiessen die gewählten Mittel erheblich gegen die gesetzlichen Bestimmungen. Das bewusste Wählen des zivilen Ungehorsams, die Dauer der Aktion, die Notwendigkeit des Polizeieinsatzes und der Widerstand gegen die Räumung nehmen dem Motiv den ehrenwerten Charakter. Dies ist konsistent mit früheren Bundesgerichtsentscheiden in ähnlichen Klimafällen (BGE 149 IV 217 E. 1.3.8).
- Entscheid: Die Rüge wird abgewiesen.
3.9. Verletzung des Beschleunigungsgebots (Rüge 9)
Die Beschwerdeführenden rügten eine Verletzung des Beschleunigungsgebots (Art. 5 StPO, Art. 29 Abs. 1 BV), da die Taten vom 14. Dezember 2019 stammten und die Verzögerung ausschliesslich der Waadtländer Justiz zuzuschreiben sei.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 5 StPO, Art. 29 Abs. 1 BV (Fristen). Beurteilung nach Komplexität, Streitwert, Verhalten der Parteien/Behörden (BGE 144 I 318 E. 7.1). Schockierende Inaktivität (z.B. 13-14 Monate Untätigkeit).
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht stellte fest, dass die vorliegende sowie ähnliche Klimafälle trotz ihrer nicht-neuartigen Komplexität nicht als einfach zu bezeichnen sind. Sie erforderten die Klärung zahlreicher komplexer Rechtsfragen und betrafen eine grosse Anzahl von Personen mit vielfältigen Delikten. Eine Verfahrensdauer von viereinhalb Jahren von der Tat bis zum Bundesgerichtsentscheid, nach einer Rückweisung an die Vorinstanz, ist vor diesem Hintergrund nicht als problematisch zu beurteilen. Die Beschwerdeführenden haben zudem keine unangemessene Dauer der Gesamtprozedur dargelegt.
- Entscheid: Die Rüge wird abgewiesen.
4. Fazit
Der Rekurs der Beschwerdeführenden wurde, soweit zulässig, abgewiesen. Die Gerichtskosten wurden den Beschwerdeführenden auferlegt.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilungen von zehn Klimaaktivisten wegen Behinderung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, Verhinderung einer Amtshandlung und einfacher Verletzung der Strassenverkehrsregeln.
- Beweisanträge und Konfrontationsrecht: Die Ablehnung weiterer Beweisanträge und die Nichtzulassung von Konfrontationsbefragungen zu Behördenberichten wurden als nicht willkürlich bzw. unzulässig erachtet, da die Berichte keine Zeugenaussagen im engeren Sinne darstellten.
- Öffentlichkeit der Verhandlung: Die Rüge der mangelnden Öffentlichkeit der Appellationsverhandlung wurde als unzulässig befunden und inhaltlich als unbegründet abgewiesen, da die Öffentlichkeit trotz begrenzter Raumkapazität grundsätzlich gewahrt war und die erste Instanz öffentlich verhandelt hatte.
- Sachverhaltsfeststellung: Die Behauptung einer willkürlichen Sachverhaltsfeststellung bezüglich der Behördeninformationen über die Demonstration wurde zurückgewiesen, da die Demonstration unbewilligt war und der kurzfristige Ortswechsel durch die Aktivisten die Planung der Behörden verunmöglichte.
- Behinderung von Dienstleistungen (Art. 239 StGB): Die Blockade der Rue Centrale für sechs Stunden, die den öffentlichen Busverkehr erheblich störte und Rettungseinsätze behinderte, erfüllte objektiv und subjektiv den Tatbestand der Behinderung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse.
- Idealkonkurrenz (Art. 239 StGB und Art. 90 Abs. 1 SVG): Das Bundesgericht bestätigte die Idealkonkurrenz, da die Schutzgüter der beiden Delikte (störungsfreier Betrieb öffentlicher Dienste vs. Strassensicherheit und Verkehrsfluss) nicht vollständig überlappen.
- Verhinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) und Grundrechte: Die Verurteilung wegen Verhinderung einer Amtshandlung verletzt die Versammlungs- und Meinungsfreiheit nicht. Die zugrunde liegenden Gesetzesbestimmungen sind hinreichend präzise.
- Verhältnismässigkeit der Einschränkung: Die Strafen für die Aktivisten wurden als verhältnismässig beurteilt. Obwohl die Versammlungsfreiheit wichtig ist, berechtigen bewusste und erhebliche Störungen (Blockade als Hauptziel, lange Dauer, Beeinträchtigung Dritter, Widerstand gegen die Polizei) zu Sanktionen, selbst wenn das Motiv "altruistisch" ist. Das Bundesgericht betonte die Verfügbarkeit legaler Demonstrationsformen und demokratischer Mittel.
- Strafmilderung/Strafverzicht: Ein ehrenwertes Motiv im Sinne von Art. 48 lit. a Ziff. 1 StGB wurde aufgrund der gewählten Mittel des zivilen Ungehorsams, der Dauer der Blockade und des Widerstands gegen die Polizei verneint.
- Beschleunigungsgebot: Die Verfahrensdauer von viereinhalb Jahren für einen komplexen Fall, der mehrere Personen und Rechtsfragen umfasste und eine Rückweisung erforderte, wurde als nicht übermässig befunden.