Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_42/2025 vom 4. August 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (9C_42/2025 vom 4. August 2025) detailliert zusammen.

Einleitung

Das Urteil betrifft einen Fall aus dem Bereich der Invalidenversicherung (IV) und die Frage der Invalidität respektive Erwerbsfähigkeit eines 1987 geborenen Versicherten. Das Bundesgericht hebt das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich sowie die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich auf und weist die Sache an die IV-Stelle zurück. Die zentrale Thematik des Urteils ist die Vorrangigkeit der Abklärung und Förderung der Eingliederungsfähigkeit vor einer abschliessenden Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit im Rahmen der Invaliditätsbemessung.

Sachverhalt

A._ meldete sich 2008 wegen psychischer Probleme bei der IV-Stelle Zürich an. Die IV finanzierte ihm eine berufliche Erstausbildung zum Kaufmann EFZ (August 2009 bis Juli 2012) und ein anschliessendes Arbeitstraining (August 2014 bis Januar 2015). Im Februar 2015 stellte die IV-Stelle fest, A._ sei aufgrund seines Berufsabschlusses in der Lage, ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen, und beendete die berufliche Eingliederung.

Nachdem A._ im Frühjahr 2019 erneut Leistungen beantragt hatte, wurde er unter anderem wegen einer sozialen Phobie, einer generalisierten Angststörung, Panikattacken sowie Verdachts auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit ängstlich-vermeidenden Zügen behandelt. Die IV-Stelle verpflichtete ihn mehrfach zur schadenmindernden medizinischen Behandlung, insbesondere einer mehrwöchigen stationären Therapie. Diese Massnahmen scheiterten jedoch, da A._ die anberaumten Klinikaufenthalte aufgrund "ausgeprägter Angst, mit fremden Menschen auf Station in Kontakt zu sein", jeweils absagte. Die IV-Stelle wies das Leistungsbegehren im November 2021 ab.

Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Sache im Juni 2022 zur weiteren Abklärung und neuen Entscheidung an die IV-Stelle zurück. Es betonte die Unterscheidung von Schadenminderungs- und Mitwirkungspflicht und forderte eine gutachterliche Abklärung des Gesundheitszustands sowie die Prüfung der Zumutbarkeit schadenmindernder Massnahmen im Sinne von Art. 7 IVG.

Gestützt auf einen Bericht der behandelnden Psychiaterin Dr. B._ (Mai 2023) und ein bidisziplinäres Administrativgutachten (Februar 2024) der SMAB AG, attestierte die IV-Stelle eine Arbeitsfähigkeit von 90 Prozent in leidensangepassten Tätigkeiten und wies das Leistungsbegehren im Juni 2024 erneut ab. Das kantonale Sozialversicherungsgericht bestätigte diese Entscheidung im November 2024. Dagegen erhob A._ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht.

Medizinische Grundlagen und Würdigung der Vorinstanz

1. Bericht der behandelnden Psychiaterin Dr. B.__ (Mai 2023): Dr. B._ diagnostizierte eine schwere ängstlich-vermeidende (selbstunsichere) Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.6) sowie eine abhängige Persönlichkeitsakzentuierung, rezidivierende depressive Episoden (gegenwärtig leichtgradig), eine ausgeprägte soziale Phobie und Panikattacken. Sie hob hervor, dass diese Störungen eine Beeinträchtigung auf allen Erfahrungs- und Verhaltensebenen zur Folge hätten. Insbesondere das "klassische Muster der Vermeidung" bei überfordernden Situationen, wie dem Antritt einer stationären Therapie, sei als imminentes Symptom der Angststörung realisiert worden. Trotz Einsicht in den Nutzen einer stationären Therapie sei es dem Versicherten nicht gelungen, diese anzutreten. Sie attestierte eine vollständige Arbeitsunfähigkeit seit 2017 und hielt A._ für nicht in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar, wobei sie die Prognose auch langfristig als ungünstig einschätzte. Einen stationären Aufenthalt hielt sie im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Ansicht nicht mehr für zumutbar, da dieser den Patienten zu stark exponieren würde.

2. Bidizisplinäres Administrativgutachten der Dres. E._ und D._ (Februar 2024): Die Administrativgutachter diagnostizierten ebenfalls eine selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (F60.6), soziale Phobie (F40.1) und Panikstörung (F41.0). Sie verneinten Hinweise auf Beschwerdebetonung oder Aggravation. Jedoch hinterliess die Selbsteinschätzung des Beschwerdeführers zu seiner beruflichen Leistungsfähigkeit in adaptierter Tätigkeit bei ihnen "sehr stark den Eindruck einer nicht-krankheitsbedingt eingeschränkten Arbeitsmotivation". Sie erklärten das Misslingen der Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt nach der Ausbildung "am ehesten" damit, dass die Anforderungen an soziale und kommunikative Fähigkeiten im Vergleich zu Praktika höher seien. Als Ressourcen wurden die abgeschlossene Ausbildung und die Unterstützung durch die Eltern genannt, ebenso das intensive Hobby Planespotting. Für "gut strukturierte, regelmässige Tätigkeit[en] ohne besonderen Zeitdruck und ohne erhöhte Anforderung an die emotionale Belastbarkeit", die weitestgehend alleine ausgeübt werden könnten, attestierten sie eine Arbeitsfähigkeit von 90 Prozent (10 % erhöhter Pausenbedarf). Sie teilten die Ansicht, dass eine stationäre Behandlung derzeit nicht bewältigt werden könne, hielten aber eine Gruppentherapie für sinnvoll und eine spätere stationäre Behandlung nach Besserung des Krankheitsbildes für möglich. Das Gutachten widersprach dem Vorliegen einer rezidivierenden depressiven Störung.

3. Würdigung der Vorinstanz: Das kantonale Sozialversicherungsgericht folgte dem Administrativgutachten, welches es als schlüssig, einleuchtend und den Anforderungen an die Beweiswürdigung genügend erachtete. Es hielt den Eindruck der Gutachter von einer nicht krankheitsbedingt eingeschränkten Arbeitsmotivation für nachvollziehbar und sah die Einschränkungen durch die Angststörung durch einen erhöhten Pausenbedarf und ein spezifisches Anforderungsprofil als berücksichtigt an. Zudem begründete es, dass die Absolvierung von Ausbildungen, die "eine gewisse zwischenmenschliche Interaktion voraussetzten", gegen weitergehende Einschränkungen spreche.

Argumentation des Beschwerdeführers vor Bundesgericht

Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung der bundesrechtlichen Begriffe der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit (Art. 6 f. ATSG) sowie des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG). Er bestritt die Schlussfolgerung einer nicht krankheitsbedingt eingeschränkten Arbeitsmotivation und verwies auf seine seit Kindheit bestehenden und zunehmenden psychischen Probleme (soziale Phobie, Ängste, Depression), die sein Vermeidungsverhalten erklären und eine erwerbliche Integration verhindert hätten. Er machte geltend, sein Hobby Planespotting beweise weder Arbeitsfähigkeit noch aktiven Alltag, da er dabei bewusst soziale Kontakte meide. Das gutachtlich definierte Belastbarkeitsprofil (weitestgehend allein arbeiten) sei angesichts seiner vollständigen Unselbständigkeit und des Bedarfs an permanenter Instruktion unzureichend. Er betonte, dass die unter Anleitung der IV absolvierte Lehre nicht mit einer Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt verglichen werden könne, was sogar der psychiatrische Teilgutachter bestätigt habe. Des Weiteren wies er auf eine schwergradige Adipositas und Sehstörungen infolge einer perniziösen Anämie hin, die als weitere relevante Krankheitsgeschehen nicht ausreichend berücksichtigt worden seien.

Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht erachtet die vorinstanzliche Ablehnung des Rentenanspruchs als verfrüht und somit als bundesrechtswidrig.

1. Kernfrage: Eingliederungsfähigkeit vor Arbeitsunfähigkeit: Das Bundesgericht hält fest, dass die Feststellung einer Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit verfrüht ist. Die in den Akten dokumentierte Vorgeschichte und die ärztlichen Stellungnahmen deuten in erster Linie auf ein Problem der objektiven Eingliederungsfähigkeit hin (vgl. BGE 148 V 397 E. 6.2.4; Urteil 9C_539/2024 vom 12. Juni 2025 E. 4.5). Der Grundsatz "Eingliederung vor/statt Rente" (Art. 1a lit. a und Art. 28 Abs. 1 lit. a IVG) gebietet, diese Frage von Amtes wegen aufzugreifen. Eine Restarbeitsfähigkeit, die auf einer objektiv nicht realisierbaren Eingliederung beruht, kann nicht als Grundlage zur Bestimmung des Invalideneinkommens herangezogen werden (BGE 148 V 174 E. 9.1). Es ist das übergeordnete Ziel des Rechts der beruflichen Eingliederung (Art. 8, 14a und 15 ff. IVG), die IV von einer Rentenversicherung zu einer (vorrangigen) Eingliederungsversicherung zu entwickeln.

2. Unzureichende Abklärung und Würdigung der Eingliederungsfähigkeit: Das Gericht kritisiert, dass zu den Auswirkungen der Gesundheitsschädigungen auf die grundsätzliche Fähigkeit des Beschwerdeführers, sich beruflich zu integrieren, jede gutachterliche Stellungnahme fehlt. Die Administrativexpertise vom Februar 2024 enthält nichts, was die Darlegungen der behandelnden Ärztin Dr. B._ über die fundamentalen Eingliederungshindernisse (Vermeidungsverhalten, Ängste) widerlegen könnte. Im Gegenteil, die Gutachter stimmen zu, dass der Beschwerdeführer derzeit nicht in der Lage ist, eine stationäre Behandlung zu bewältigen. Die Vorinstanz habe zu Unrecht festgestellt, die Gutachter hätten die ärztlichen Berichte sorgfältig gewürdigt, da der psychiatrische Sachverständige die Schilderung der Eingliederungshindernisse durch Dr. B._ mit keinem Wort aufgreife, obwohl das kantonale Gericht die Sache explizit zur Abklärung der Eingliederungsfähigkeit zurückgewiesen hatte.

3. Fehlinterpretation der Arbeitsmotivation: Das Bundesgericht hält die vorinstanzliche Annahme, die Äusserungen des Beschwerdeführers hätten den Eindruck einer nicht krankheitsbedingt eingeschränkten Arbeitsmotivation vermittelt, für unhaltbar. Die "konsternierte" Reaktion des Beschwerdeführers sei vielmehr mit den fachärztlich beschriebenen Verhaltensmustern bei einer Persönlichkeits- und Angststörung vereinbar. Die Gutachter hätten selbst einen Zusammenhang zwischen der misslingenden beruflichen Integration und störungsbedingten "sozialen und sonstigen Ängsten" hergestellt. Auch die Argumentation der Vorinstanz, die absolvierten Ausbildungen bewiesen eine Eingliederungsfähigkeit, werde durch die Differenzierung des psychiatrischen Gutachters zwischen den Anforderungen einer Lehre und jenen des ersten Arbeitsmarktes widerlegt. Das Hobby Planespotting spreche ebenfalls nicht für eine Vermittelbarkeit im allgemeinen Arbeitsmarkt, da es bewusst zur Vermeidung von Menschenkontakt genutzt werde.

4. Notwendigkeit von Integrationsmassnahmen (Art. 14a IVG): Das Bundesgericht betont die Wichtigkeit einer eingliederungsorientierten Therapie. Es weist darauf hin, dass eine wirksame Förderung der Eingliederungsfähigkeit abgestimmte medizinische Massnahmen (Art. 25 KVG) und Massnahmen zur sozial-beruflichen Rehabilitation (Art. 14a IVG) erfordert. Letztere, insbesondere Massnahmen nach Art. 14a Abs. 2 lit. a IVG (Gewöhnung an den Arbeitsprozess, Förderung der Arbeitsmotivation, Stabilisierung der Persönlichkeit, Einüben sozialer Grundfähigkeiten und Aufbau der Arbeitsfähigkeit), sind explizit für Versicherte mit psychischen Problemen gedacht, deren Gesundheitszustand für eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt noch nicht stabil genug ist. Die Voraussetzungen für solche Integrationsmassnahmen (seit mindestens sechs Monaten 50 % Arbeitsunfähigkeit) seien erfüllt. Die Gutachter selbst hielten eine Gruppentherapie für möglich und sinnvoll, was einen Ansatzpunkt für solche Massnahmen darstellt.

Fazit des Bundesgerichts und Rückweisung

Die Ablehnung des Rentenanspruchs ist somit verfrüht und bundesrechtswidrig, da die offenkundig gefährdete Eingliederungsfähigkeit ausgeblendet wurde. Das gutachtlich eingeschätzte Leistungsvermögen stellt vorerst lediglich ein bedingtes, medizinisch-theoretisches Leistungspotential dar. Die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese zunächst ein neues Gutachten einholt. Dieses soll unter Berücksichtigung aller relevanten Entwicklungen und der Erkenntnisse der therapierenden Fachleute den Einfluss der Krankheitssymptomatik (soweit keiner Behandlung zugänglich) auf die Eingliederungsperspektiven sowie die Durchführbarkeit von einschlägigen medizinischen und sozialtherapeutischen Vorkehrungen klären. Auf dieser Grundlage ist gegebenenfalls ein Eingliederungsplan für leidensangepasste Tätigkeiten zu erstellen (Art. 57 Abs. 1 lit. f IVG). Die Frage nach der Arbeits(un)fähigkeit kann erst neu beurteilt werden, nachdem realistische Möglichkeiten der beruflichen Integration ausgeschöpft sind.

Zusammenfassende Essenz der wesentlichen Punkte

  • Vorrang der Eingliederungsfähigkeit: Die Kernfrage ist nicht primär die Arbeits(un)fähigkeit, sondern die objektiv realisierbare Eingliederungsfähigkeit des Versicherten in den Arbeitsmarkt. Das Bundesgericht betont den Grundsatz "Eingliederung vor Rente".
  • Mangelhafte Abklärung: Die Vorinstanzen haben die medizinischen Hinweise auf die fehlende Eingliederungsfähigkeit unzureichend gewürdigt und die Diskrepanz zwischen den Berichten der behandelnden Ärztin und den Administrativgutachten nicht ausreichend aufgeklärt.
  • Fehlinterpretation der Arbeitsmotivation: Die Annahme einer nicht krankheitsbedingten reduzierten Arbeitsmotivation wurde vom Bundesgericht als unhaltbar verworfen, da das gezeigte Verhalten als Symptom der Angst- und Persönlichkeitsstörung zu werten ist.
  • Integrationsmassnahmen nach Art. 14a IVG: Es ist zu prüfen, ob und wie die Eingliederungsfähigkeit durch gezielte medizinische Massnahmen und sozial-berufliche Rehabilitationsmassnahmen hergestellt werden kann, bevor eine abschliessende Beurteilung der Arbeitsfähigkeit erfolgt.
  • Rückweisung: Die Sache wird an die IV-Stelle zurückgewiesen, um eine umfassende Abklärung der Eingliederungsperspektiven und der Umsetzbarkeit von Integrationsmassnahmen vorzunehmen und gegebenenfalls einen Eingliederungsplan zu erstellen. Erst danach kann die Invalidität abschliessend bemessen werden.