Zusammenfassung von BGer-Urteil 5A_788/2024 vom 8. Juli 2025

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Im Folgenden wird das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) vom 8. Juli 2025, Aktenzeichen 5A_788/2024, detailliert zusammengefasst.

1. Einführung und Streitgegenstand

Das Bundesgericht hatte in diesem Verfahren über einen Rekurs gegen ein Urteil des Einzelrichters des Zivilappellationsgerichts des Kantons Waadt vom 11. Oktober 2024 zu entscheiden. Gegenstand der Beschwerde war die Änderung von ehelichen Schutzmassnahmen, insbesondere die Höhe des Kinderunterhaltsbeitrags. Der Beschwerdeführer (Ehemann, A._) beantragte primär die Zuteilung der alleinigen Obhut über das Kind und die Reduktion seines Kinderunterhaltsbeitrags auf monatlich CHF 400. Die Beschwerdegegnerin (Ehefrau, B._) forderte die Beibehaltung der Obhut und eine Erhöhung des Unterhalts.

2. Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf

Die Parteien heirateten 2014, und ihr gemeinsames Kind wurde 2016 geboren. Seit dem 26. Februar 2023 leben sie getrennt. In einem Teilentscheid über eheliche Schutzmassnahmen vom 4. Mai 2023 wurde die Obhut der Mutter zugewiesen und der Vater zu einem monatlichen Kinderunterhaltsbeitrag von CHF 2'100 (zuzüglich Familienzulagen) verpflichtet. Die Berechnung basierte auf dem damaligen Nettoeinkommen des Vaters von ca. CHF 6'600 und dem fehlenden Einkommen der Mutter.

Am 22. März 2024 beantragte der Ehemann die Abänderung dieser Schutzmassnahmen, unter anderem mit dem Ziel, die alleinige Obhut zu erhalten und den Kinderunterhalt neu zu regeln. Seine subsidiären Anträge im Berufungsverfahren vor dem Kantonsgericht lauteten, dass er lediglich CHF 400 pro Monat an Kinderunterhalt leisten sollte. Das erstinstanzliche Gericht wies den Änderungsantrag ab. Das Kantonsgericht bestätigte diese Abweisung im Wesentlichen, begründete die Unzulässigkeit der Anträge des Ehemannes jedoch primär mit prozessualen Mängeln, bevor es sie subsidiär auch materiell ablehnte.

3. Zulässigkeit der Beschwerde an das Bundesgericht (Rn. 1-2)

Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde in Zivilsachen. Da es sich um eine Beschwerde gegen eine Massnahme des vorsorglichen Rechtsschutzes (Art. 98 BGG) handelte, konnten lediglich die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden. Dies erforderte eine präzise Rügepflicht (Rügeprinzip gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht prüfte Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV) nur, wenn die Rüge entsprechend begründet war.

4. Erwägungen des Bundesgerichts zu den prozessualen Unzulässigkeitsgründen des Kantonsgerichts (Rn. 3)

Das Kantonsgericht hatte die Anträge des Beschwerdeführers zur Änderung des Kinderunterhalts aus zwei Gründen als unzulässig erachtet:

  • 4.1. Form der Rechtsbegehren (Rn. 3.1):

    • Begründung des Kantonsgerichts: Das Kantonsgericht sah im Antrag des Beschwerdeführers, wonach ihm "acte de son engagement à verser 400 fr. par mois au titre de l'entretien de l'enfant" gegeben werden sollte, lediglich eine einseitige Verpflichtungserklärung und keine zulässige Klage auf Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne von Art. 311 Abs. 1 ZPO. Ein solches Begehren könne nicht direkt in den Dispositiv übernommen werden.
    • Beurteilung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht rügte diese Auffassung als übertriebenen Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV). Es führte aus, dass Rechtsbegehren nach dem Vertrauensprinzip und im Licht der Begründung des Rechtsmittels auszulegen seien. Der Sinn eines Begehrens könne ohne weiteres aus der Begründung, den Umständen des Falles oder der Rechtsnatur der Sache erschlossen werden. Im vorliegenden Fall sei es offensichtlich gewesen, dass der Beschwerdeführer eine Reduktion des Kinderunterhalts von CHF 2'100 auf CHF 400 ab dem 1. August 2024 anstrebte. Die Formulierung als "Engagement" anstatt als Verurteilungsantrag ändere daran nichts. Das Kantonsgericht hätte das Begehren als hinreichend präzise zur Aufnahme in den Dispositiv erkennen können. Das Bundesgericht gab dieser Rüge des Beschwerdeführers statt und erachtete die Begründung des Kantonsgerichts als willkürlich.
  • 4.2. Neuheit der Rechtsbegehren (Rn. 3.2):

    • Begründung des Kantonsgerichts: Das Kantonsgericht hatte angenommen, das Begehren sei neu und sei in erster Instanz nicht behandelt worden, weshalb es im Berufungsverfahren unzulässig sei. Der Beschwerdeführer habe auch nicht ausreichend begründet, warum die erstinstanzliche Entscheidung diesbezüglich lückenhaft oder fehlerhaft gewesen sei.
    • Beurteilung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht verwies auf den uneingeschränkten Untersuchungsgrundsatz (uneingeschränkte Offizialmaxime) in Kindesschutzsachen gemäss Art. 296 Abs. 1 ZPO und die Dispositionsmaxime gemäss Art. 296 Abs. 3 ZPO. Diese Maximen gelten nicht nur zugunsten des Kindes, sondern auch zu dessen Ungunsten, insbesondere zugunsten des unterhaltspflichtigen Elternteils. Sie erstrecken sich auch auf das Berufungsverfahren. Gemäss Art. 317 Abs. 1bis ZPO sind neue Tatsachen und Beweismittel (sog. Nova) im Berufungsverfahren zulässig, wenn der uneingeschränkte Untersuchungsgrundsatz Anwendung findet, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 317 Abs. 1 ZPO nicht erfüllt sind. Da das Kantonsgericht selbst die vom Beschwerdeführer vorgelegten neuen Beweismittel (Dokumente zu Einkommen/Ausgaben) als zulässig erachtete und berücksichtigte, sei es willkürlich, ihm vorzuwerfen, sein Begehren sei neu. Wenn neue Tatsachen und das darauf bezogene Begehren zulässig seien, hätten sie offenkundig nicht bereits in erster Instanz vorgebracht oder untersucht werden müssen. Das Bundesgericht gab auch dieser Rüge des Beschwerdeführers statt.

5. Materielle Prüfung der Unterhaltsänderung (Rn. 4)

Obwohl das Bundesgericht die prozessualen Gründe des Kantonsgerichts als willkürlich befunden hatte, prüfte es die materielle Argumentation des Kantonsgerichts, da dieses die Anträge auch subsidiär materiell abgewiesen hatte.

  • 5.1. Einkommenssituation des Beschwerdeführers (Rn. 4.2-4.3):

    • Begründung des Kantonsgerichts: Der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, die Gehälter seiner Angestellten seien gestiegen und sein eigenes Einkommen gesunken. Er legte einen neuen Arbeitsvertrag mit reduziertem Gehalt und einen anwendbaren Gesamtarbeitsvertrag (GAV) vor. Das Kantonsgericht sah eine konkrete Gehaltserhöhung in seinem Unternehmen als nicht erwiesen an, da der GAV allein nicht genüge. Es betonte, dass der Beschwerdeführer der wirtschaftliche Inhaber seiner GmbH sei und somit Zugang zu den Geschäftsunterlagen habe. Trotzdem habe er keine verlässliche Buchführung vorgelegt, die eine Lohnsenkung aufgrund sinkender Umsätze oder steigender Kosten belege, während er gleichzeitig eine Erhöhung anderer Löhne behaupte. Zudem habe er nicht dargelegt, wie sein angeblich defizitäres Budget ihm erlaube, CHF 400 Unterhalt zu zahlen.
    • Beurteilung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht folgte der kantonalen Argumentation. Die vorgelegten Unterlagen (GAV, Schreiben der Paritätischen Kommission) belegten nicht, dass die konkreten Lohnkosten des Unternehmens tatsächlich gestiegen waren oder dass der Umsatz tatsächlich gesunken sei. Der Beschwerdeführer habe sich darauf beschränkt, pauschal auf Dokumente zu verweisen, ohne deren Inhalt präzise darzulegen. Die fehlende Vorlage einer verlässlichen (Zwischen-)Buchhaltung wurde als berechtigter Vorwurf des Kantonsgerichts bestätigt. Angesichts seiner Position als Alleingesellschafter sei es nicht willkürlich, von ihm zusätzliche Beweismittel zu verlangen. Auch die Rüge einer willkürlichen Anwendung von Art. 8 ZGB (Beweislast) wurde abgewiesen, da die Fakten festgestellt waren. Die Rügen des Beschwerdeführers bezüglich der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und der Einkommensberechnung wurden abgewiesen.
  • 5.2. Hypothetisches Einkommen der Beschwerdegegnerin (Rn. 4.5):

    • Begründung des Kantonsgerichts: Das Kantonsgericht hatte keine Verantwortung der Beschwerdegegnerin für ihre Erwerbslosigkeit festgestellt und kein hypothetisches Einkommen angerechnet.
    • Beurteilung durch das Bundesgericht: Der Beschwerdeführer machte geltend, die Beschwerdegegnerin sei während der gesamten Ehe erwerbstätig gewesen und habe "unnötigerweise" in eine Region ohne französische Sprachkenntnisse gezogen, was ihre Jobsuche erschwere. Das Bundesgericht hielt fest, dass der Beschwerdeführer zwar ein Dokument aus dem erstinstanzlichen Verfahren als Beleg für die Erwerbstätigkeit der Ehefrau während der Ehe anführte, er aber nicht darlegen konnte, dass das Kantonsgericht dieses bereits in erster Instanz vorgelegte Beweismittel willkürlich übergangen hatte. Trotz des uneingeschränkten Untersuchungsgrundsatzes konnte vom Kantonsgericht nicht erwartet werden, von sich aus eine erneute Sachverhaltsfeststellung vorzunehmen, ohne dass dies mit einer spezifischen Rüge im Berufungsverfahren verlangt wurde. Die Rüge bezüglich der willkürlichen Nichtanrechnung eines hypothetischen Einkommens wurde abgewiesen.
  • 5.3. Rechtliches Gehör und Nichtbefragung der Gegenpartei (Rn. 5):

    • Begründung des Kantonsgerichts: Das Kantonsgericht hatte die Beschwerdegegnerin nicht zur Stellungnahme zum Berufungsgesuch des Ehemannes eingeladen, da es die Berufung als "manifestement mal fondé" (offensichtlich unbegründet) erachtete (Art. 312 Abs. 1 ZPO).
    • Beurteilung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Bestimmung von Art. 312 Abs. 1 ZPO es dem Berufungsgericht erlaubt, von der Befragung der Gegenpartei abzusehen, wenn die Berufung offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist. Da das Kantonsgericht seine Gründe für die Abweisung der Berufung dargelegt hatte, war klar, dass es die Berufung als offensichtlich unbegründet ansah. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) lag somit nicht vor. Diese Rüge des Beschwerdeführers wurde ebenfalls abgewiesen.

6. Fazit und Entscheid des Bundesgerichts

Obwohl das Bundesgericht die prozessualen Gründe des Kantonsgerichts für die Unzulässigkeit der Anträge des Beschwerdeführers (übertriebener Formalismus und Neuheit der Begehren im Kontext des Untersuchungsgrundsatzes) als willkürlich befand und diesen Rügen stattgab, änderte dies nichts am Ergebnis der materiellen Prüfung.

Das Bundesgericht bestätigte die materielle Einschätzung des Kantonsgerichts, dass die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente zur Änderung des Kinderunterhalts (Reduktion seines Einkommens, Anrechnung eines hypothetischen Einkommens der Beschwerdegegnerin) nicht ausreichend belegt waren und somit die Voraussetzungen für eine Abänderung der Schutzmassnahmen nicht erfüllt waren.

Da die materiellen Rügen des Beschwerdeführers abgewiesen wurden, wies das Bundesgericht die Beschwerde ab, soweit sie zulässig war. Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt, der obsiegenden Beschwerdegegnerin wurde keine Parteientschädigung zugesprochen, da sie nicht zur Stellungnahme eingeladen worden war.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Prozessuale Rügen erfolgreich, aber ohne Auswirkung auf das Ergebnis: Das Bundesgericht bejahte Willkür des Kantonsgerichts bei der Anwendung der Formvorschriften für Rechtsbegehren (übertriebener Formalismus) und der Zulässigkeit von Nova im Berufungsverfahren (unter uneingeschränktem Untersuchungsgrundsatz in Kindersachen). Dies bedeutet, dass die Anträge des Beschwerdeführers prozedural korrekt waren.
  2. Materielle Rügen erfolglos: Trotz der erfolgreichen prozeduralen Rügen konnte der Beschwerdeführer seine materiellen Argumente zur Reduktion des Kinderunterhalts (Einkommenseinbussen, hypothetisches Einkommen der Ex-Frau) nicht hinreichend beweisen oder glaubhaft machen. Das Bundesgericht bestätigte die materielle Begründung des Kantonsgerichts, dass die Voraussetzungen für eine Unterhaltsänderung nicht erfüllt waren.
  3. Bestätigung der Vorinstanz im Ergebnis: Die Beschwerde des Ehemannes wurde letztlich abgewiesen, da die materielle Ablehnung seiner Unterhaltskürzung durch das Kantonsgericht vom Bundesgericht als nicht willkürlich erachtet wurde. Das rechtliche Gehör wurde nicht verletzt.
  4. Bedeutung im Kontext: Der Entscheid unterstreicht die Wichtigkeit der korrekten Begründung von Rechtsbegehren und der substanziellen Beweisführung bei Unterhaltsänderungen. Gleichzeitig präzisiert er die Anwendung des Prinzips des übertriebenen Formalismus und des uneingeschränkten Untersuchungsgrundsatzes im Berufungsverfahren, insbesondere in familienrechtlichen Kindessachen. Der Fall illustriert, dass selbst eine prozedural fehlerhafte Begründung einer Vorinstanz bestätigt werden kann, wenn das materielle Ergebnis korrekt ist und der Beschwerdeführer keine willkürliche Sachverhaltsfeststellung oder Rechtsanwendung nachweisen kann.