Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1201/2023 vom 19. Mai 2025

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Die vorliegende Zusammenfassung beleuchtet das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_1201/2023 vom 19. Mai 2025. Das Urteil befasst sich im Wesentlichen mit zwei Kernpunkten: der Zulässigkeit eines Verzichts auf die Ausschreibung einer Landesverweisung im Schengener Informationssystem (SIS) im abgekürzten Verfahren und der Bemessung der Entschädigung der amtlichen Verteidigung sowie der Kostenverteilung im Rechtsmittelverfahren.

A. Sachverhalt und Vorinstanzen

Das Landgericht Uri verurteilte A.__ im abgekürzten Verfahren unter anderem wegen mehrfachen Diebstahls, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruchs sowie Widerhandlungen gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) und das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) zu einer Freiheitsstrafe von 13 Monaten und einer Busse. Zudem verfügte es eine Landesverweisung von 15 Jahren, verzichtete jedoch ausdrücklich auf deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) (Dispositiv-Ziff. 3.2). Die Entschädigung der amtlichen Verteidigung wurde ebenfalls festgesetzt.

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Uri erhob Berufung gegen den Verzicht auf die SIS-Ausschreibung und die Höhe der zugesprochenen Verteidigungsentschädigung. Das Obergericht des Kantons Uri bestätigte im Wesentlichen das erstinstanzliche Urteil bezüglich der SIS-Ausschreibung und nahm nur geringfügige Anpassungen an der Entschädigung der amtlichen Verteidigung vor, wobei es die Kosten des Rechtsmittelverfahrens auf die Staatskasse nahm.

B. Kernfragen und Rügen vor dem Bundesgericht

Die Staatsanwaltschaft beantragte die Aufhebung des Urteils des Obergerichts und die Rückweisung der Sache zur neuen Beurteilung. Sie rügte im Wesentlichen:

  1. Verletzung des Willkürverbots, des rechtlichen Gehörs und von Bestimmungen der StPO/SIS-II-Verordnung bezüglich des Verzichts auf die SIS-Ausschreibung. Sie machte geltend, das Obergericht sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die Anklageschrift an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung mit Zustimmung der Parteien abgeändert worden sei und sie sich mit dem Verzicht auf die SIS-Ausschreibung einverstanden erklärt habe.
  2. Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV und willkürliche Anwendung kantonaler Gebührenvorschriften bezüglich der Entschädigung der amtlichen Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft beanstandete die Entschädigung für "Vollzugsbemühungen", für "Posteingänge" und "Terminvereinbarungen" sowie für beigezogene Dolmetscher.
  3. Verletzung von Art. 428 Abs. 1 und 4 StPO bezüglich der Kostenverteilung im Berufungsverfahren, da die Vorinstanz trotz teilweisem Unterliegen des Beschwerdegegners 1 die Verfahrenskosten vollständig der Staatskasse auferlegte.
C. Detaillierte Erörterung der Bundesgerichtsentscheidung 1. Zur Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem (SIS)

1.1. Rechtlicher Rahmen: Das Bundesgericht erinnert an die spezifischen Besonderheiten des abgekürzten Verfahrens gemäss Art. 362 StPO. Das Gericht prüft summarisch, ob die Voraussetzungen für ein solches Verfahren erfüllt sind, ob die Anklage mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung übereinstimmt und ob die beantragten Sanktionen angemessen sind (Art. 362 Abs. 1 StPO). Die Rechtsmittelmöglichkeiten sind im abgekürzten Verfahren stark beschränkt: Eine Partei kann lediglich geltend machen, der Anklageschrift nicht zugestimmt zu haben oder dass das Urteil nicht der Anklageschrift entspricht (Art. 362 Abs. 5 StPO). Dies hängt mit dem summarischen Charakter des Verfahrens und der Zustimmung der Parteien zusammen (BGE 143 IV 122 E. 3.2.1; 142 IV 307 E. 2.4).

Ein zentraler Punkt ist, dass die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS – ebenso wie die Landesverweisung selbst – nicht dem Anklageprinzip unterliegt (BGE 146 IV 172 E. 3.2.5). Spricht das Gericht eine Landesverweisung gegen einen Drittstaatsangehörigen aus, muss es zwingend auch darüber befinden, ob die Landesverweisung im SIS auszuschreiben ist. Diese Entscheidung muss im Dispositiv des Urteils erwähnt werden. Für das abgekürzte Verfahren bedeutet dies, dass die Anklageschrift gemäss Art. 360 Abs. 1 StPO auch allfällig beantragte Massnahmen, wie die Landesverweisung und damit auch die SIS-Ausschreibung oder der Verzicht darauf, zu enthalten hat.

1.2. Vorinstanzliche Argumentation: Die Vorinstanz (Obergericht) ging davon aus, dass die Staatsanwaltschaft an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung sinngemäss auf eine SIS-Ausschreibung und damit auf eine Ergänzung der Anklage verzichtet habe. Dies basierte auf der Äusserung der Verfahrensleitung, das Gericht könne über die SIS-Ausschreibung "gar nicht befinden", da sie nicht in der Anklageschrift enthalten sei und die Zustimmung der Parteien erfordere. Die daraufhin erfolgte Antwort der Staatsanwaltschaft ("Beides [lacht]", auf die Frage, ob sie auf eine Wortmeldung oder eine Ergänzung verzichte) wurde von der Vorinstanz als Einverständnis mit dem Verzicht interpretiert.

1.3. Kritik des Bundesgerichts: Das Bundesgericht erachtet diese Auslegung als fehlerhaft. Es hält fest, dass das erstinstanzliche Gericht zu Unrecht annahm, es könne "gar nicht" über die SIS-Ausschreibung befinden, da diese nicht in der Anklageschrift enthalten sei und der Zustimmung bedürfe. Gerade weil die Ausschreibung im SIS bei Anordnung einer Landesverweisung zwingend zu beurteilen ist, hätte das erstinstanzliche Gericht die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklageschrift auffordern müssen.

Da das erstinstanzliche Gericht von einer falschen rechtlichen Prämisse ausging, konnte die Äusserung der Staatsanwaltschaft an Schranken nicht als ein bewusstes und einvernehmliches Einverständnis mit einem Verzicht auf die SIS-Ausschreibung interpretiert werden. Folglich entsprach das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts, das einen Verzicht auf die SIS-Ausschreibung beinhaltete, nicht der diesbezüglich lückenhaften Anklageschrift. Damit verneinte die Vorinstanz das Vorliegen eines Berufungsgrundes nach Art. 362 Abs. 5 StPO zu Unrecht. Die Rüge der Beschwerdeführerin erweist sich insoweit als begründet. Weitere Rügen in diesem Zusammenhang (Willkür, rechtliches Gehör) sowie die Frage des widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) müssen aufgrund dieser Feststellung nicht mehr geprüft werden.

2. Zur Entschädigung der amtlichen Verteidigung

2.1. Rechtlicher Rahmen: Das Bundesgericht weist darauf hin, dass die amtliche Verteidigung nach Art. 29 Abs. 3 BV Anspruch auf Entschädigung und Auslagenersatz hat, sofern die Bemühungen zur Wahrung der Rechte im Strafverfahren notwendig und verhältnismässig waren. Die Entschädigung richtet sich nach kantonalem Recht (hier: Gerichtsgebührenverordnung und -reglement des Kantons Uri). Das Bundesgericht überprüft die Anwendung kantonaler Anwaltstarife nur auf Willkür und Vereinbarkeit mit verfassungsmässigen Rechten (Art. 95 BGG, BGE 145 I 121 E. 2.1). Den Kantonen steht ein weiter Ermessensspielraum bei der Bemessung des Honorars zu; das Bundesgericht schreitet nur bei klarer Überschreitung ein, d.h., wenn das Honorar ausserhalb jedes vernünftigen Verhältnisses steht (BGE 141 I 124 E. 3.2).

2.2. Prüfung der einzelnen Rügen:

  • "Vollzugsbemühungen": Die Staatsanwaltschaft rügte die Entschädigung für Bemühungen im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Strafvollzug. Das Bundesgericht bestätigt die Ansicht der Vorinstanz, wonach der vorzeitige Strafvollzug (Art. 236 StPO) eine strafprozessuale Zwangsmassnahme an der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Sanktionsvollzug darstellt (BGE 143 I 241 E. 3.5). Die damit verbundenen Bemühungen der Verteidigung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren sind kausal und angemessen. Die Vorinstanz hat ihr Ermessen hier nicht überschritten.
  • "Posteingänge" und "Terminvereinbarungen": Die Staatsanwaltschaft beanstandete die Entschädigung dieser Punkte als Kanzleiarbeiten, die gemäss Art. 35 Abs. 2 GGebR im Stundenansatz enthalten sein sollten. Das Bundesgericht stützt die vorinstanzliche Argumentation, dass diese Aufwendungen nicht als blosse Kanzleiarbeiten, sondern als mit der Durchsicht und Sichtung der eingegangenen Aktenstücke verbundene Tätigkeiten zu verstehen sind. Eine willkürliche Anwendung des kantonalen Rechts wird verneint.
  • Dolmetscherkosten: Die Staatsanwaltschaft verwies auf ein kantonales Merkblatt mit niedrigeren Stundenansätzen. Das Bundesgericht stellt fest, dass dieses Merkblatt nach den Rechnungsstellungen der amtlichen Verteidigung datiert war. Mangels einer klaren früheren Richtlinie erachtete die Vorinstanz die vollumfängliche Entschädigung der Dolmetscherkosten als im Ermessen liegend. Auch hier wird keine Willkür festgestellt.
  • Gesamtentschädigung: Die von der Vorinstanz für das Rechtsmittelverfahren zugesprochene Entschädigung von Fr. 6'891.40 für 22,41 Stunden liegt im unteren Bereich des gesetzlichen Rahmens (Art. 31 Abs. 1 GGebR: Fr. 500.-- bis Fr. 15'000.--). Eine Ermessensüberschreitung ist nicht erkennbar. Eine weitere Rüge bezüglich "Übermittlungszetteln" wurde wegen mangelnder Begründung (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht behandelt.

Fazit zur Entschädigung: Das Bundesgericht verneint eine willkürliche Festsetzung des Honorars. Die Rügen der Beschwerdeführerin erweisen sich als unbegründet, soweit darauf eingetreten werden konnte.

3. Zur Kostenfolge im Berufungsverfahren

3.1. Rechtlicher Rahmen: Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens tragen die Parteien nach Massgabe ihres Obsiegens oder Unterliegens (Art. 428 Abs. 1 StPO). Die Bemessung des Kostenanteils hängt vom Ausmass des Obsiegens ab, und bei gemischtem Ausgang ist der Arbeitsaufwand für die einzelnen Punkte massgeblich. Dem Sachgericht kommt dabei ein weiter Ermessensspielraum zu (Urteil 7B_829/2023 vom 19. September 2024 E. 4.2).

3.2. Prüfung durch das Bundesgericht: Die Staatsanwaltschaft rügte, dass trotz teilweisem Unterliegen des Beschwerdegegners 1 (A.__) sämtliche Verfahrenskosten des Berufungsverfahrens der Staatskasse auferlegt wurden. Das Obergericht begründete dies damit, dass die Staatsanwaltschaft mit ihrem Hauptantrag (SIS-Ausschreibung) nicht durchgedrungen sei und ihr teilweises Obsiegen betreffend die Entschädigung der Verteidigung im Interesse des Beschwerdegegners 1 erfolgt sei. Das Bundesgericht schliesst sich der Auffassung der Vorinstanz an, dass der Arbeitsaufwand für die vom Beschwerdegegner 1 gestellten Anträge auf begründetes Nichteintreten und auf Ausstellung einer Teilrechtskraftbescheinigung im Verhältnis zu den Hauptberufungsgründen als gering einzuschätzen war. Das Obergericht hat seinen weiten Ermessensspielraum bei der Kostenverteilung nicht überschritten. Die Rüge ist unbegründet.

D. Endgültiger Entscheid und Auswirkungen

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut und weist das Urteil des Obergerichts des Kantons Uri vom 14. September 2023 auf (hauptsächlich aufgrund des Fehlers bezüglich der SIS-Ausschreibung). Die Sache wird zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

Die Staatsanwaltschaft trägt keine Gerichtskosten und erhält keine Parteientschädigung. Dem Beschwerdegegner 1 (A.__) wurde unentgeltliche Rechtspflege gewährt, weshalb ihm keine Gerichtskosten auferlegt werden. Der Kanton Uri hat dessen Rechtsvertreterin, Rechtsanwältin Bianca Bulgheroni, eine Entschädigung von CHF 900.-- für das bundesgerichtliche Verfahren zu bezahlen. Der Beschwerdegegnerin 2 (Bianca Bulgheroni als Partei im Entschädigungsstreit) werden keine Parteientschädigungen zugesprochen, da ihr in diesem Zusammenhang keine Aufwendungen entstanden sind.

E. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  • Fehler bei SIS-Ausschreibung im abgekürzten Verfahren: Das Bundesgericht hob den Entscheid auf, da das erstinstanzliche Gericht zu Unrecht davon ausging, nicht über die SIS-Ausschreibung befinden zu können, weil sie nicht in der Anklageschrift enthalten war und der Zustimmung bedürfe. Bei Anordnung einer Landesverweisung ist die SIS-Ausschreibung (oder der Verzicht darauf) zwingend zu beurteilen und die Anklageschrift hätte dies enthalten oder ergänzt werden müssen. Ein Einverständnis der Staatsanwaltschaft mit dem Verzicht konnte unter diesen falschen Prämissen nicht angenommen werden.
  • Entschädigung der amtlichen Verteidigung: Die Rügen der Staatsanwaltschaft bezüglich der Entschädigung für "Vollzugsbemühungen", "Posteingänge" und Dolmetscherkosten wurden vom Bundesgericht als unbegründet abgewiesen. Die Bemessung des Honorars durch die kantonalen Gerichte liegt in deren weitem Ermessensspielraum und wurde nicht als willkürlich befunden.
  • Kostenverteilung im Rechtsmittelverfahren: Die Staatsanwaltschaft unterlag im Hauptpunkt (SIS-Ausschreibung) und ihr Teilerfolg bei der Entschädigung war im Interesse des Beschuldigten, weshalb die Kostenauferlegung an die Staatskasse als ermessenskonform beurteilt wurde.
  • Gesamtausgang: Das Urteil wird hauptsächlich wegen des Fehlers bei der SIS-Ausschreibung aufgehoben und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.