Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) 2C_428/2024 vom 11. Juni 2025 befasst sich detailliert mit der Frage des Familiennachzugs eines drittstaatsangehörigen Sohnes zu seinem Schweizer Vater und insbesondere mit dem Vorwurf des Rechtsmissbrauchs.
1. Sachverhalt und Verfahrensgegenstand
Der Beschwerdeführer, ein ägyptischer Staatsangehöriger (geb. 2004), ersuchte im März 2023 um eine Einreisebewilligung in die Schweiz zum Zwecke des Familiennachzugs zu seinem Vater. Der Vater ist seit 2008 Schweizer Staatsbürger und wohnhaft in der Schweiz. Der Beschwerdeführer lebte bis Juni 2022 in Ägypten. Im Juni 2022 und erneut im Januar 2023 erhielt er eine Aufenthaltsbewilligung in Slowenien (EU-Staat) mit dem Vermerk "Family Member of Citizen of Swiss Confederation". Diese zweite Bewilligung war bis zu seinem 21. Geburtstag (August 2025) gültig und somit als "dauerhaft" im Sinne des Gesetzes zu qualifizieren. Kurz nach Erhalt der zweiten slowenischen Bewilligung ersuchte der Beschwerdeführer über die Schweizer Botschaft in Slowenien um ein Visum für langfristige Aufenthalte in der Schweiz und stellte schliesslich das definitive Nachzugsgesuch.
Das Migrationsamt des Kantons Zürich lehnte das Gesuch ab, und die dagegen erhobenen kantonalen Rechtsmittel (Sicherheitsdirektion, Verwaltungsgericht) blieben erfolglos. Die kantonalen Instanzen begründeten die Abweisung mit einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Beschwerdeführers. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich reichte der Beschwerdeführer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein.
2. Rechtliche Grundlagen und Kognition des Bundesgerichts
- Zulässigkeit der Beschwerde (E. 1): Das Bundesgericht bejahte die Zulässigkeit der Beschwerde, da der Beschwerdeführer als Familienangehöriger eines Schweizer Bürgers grundsätzlich einen potenziellen Aufenthaltsanspruch gemäss Art. 42 Abs. 2 AIG (Ausländer- und Integrationsgesetz) geltend machen kann. Ob dieser Anspruch materiell besteht, ist eine Frage der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit.
- Kognition und Sachverhaltsfeststellung (E. 2): Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine Berichtigung oder Ergänzung ist nur bei offensichtlicher Unrichtigkeit (Willkür) oder Rechtsverletzung möglich (Art. 97 Abs. 1 BGG), wobei hierfür erhöhte Rüge- und Begründungspflichten gelten. Der Beschwerdeführer schilderte weitgehend eigene Sachverhaltsdarstellungen ohne die notwendige Begründung. Auch neue Beweismittel (Noven) wurden als unzulässig erachtet, da der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs bereits im kantonalen Verfahren zentral war und die Unterlagen hätten eingereicht werden können. Entsprechend blieben die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen massgeblich.
- Anwendbares Recht (E. 4.1): Das Gericht stellte klar, dass es sich um einen rein internen Sachverhalt handelt (Schweizer Bürger, kein EU/EFTA-Bürger, der sich auf das FZA beruft). Daher ist das Freizügigkeitsabkommen (FZA) nicht direkt anwendbar. Allerdings ist die FZA-Rechtsprechung (insbesondere die sogenannte "Akrich"-Rechtsprechung und BGE 136 II 120 E. 3.3.1) bei der Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots im Zusammenhang mit Art. 42 AIG vergleichend miteinzubeziehen, da der Gesetzgeber mit Art. 42 Abs. 2 AIG den Familiennachzug für Schweizer Bürger gleich regeln wollte wie denjenigen für EU-Angehörige nach dem ursprünglichen Verständnis des FZA.
- Voraussetzungen des Art. 42 Abs. 2 AIG (E. 4.2 f.): Die Bestimmung sieht vor, dass ausländische Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben, wenn sie im Besitz einer dauerhaften Aufenthaltsbewilligung eines FZA-Staates sind und unter 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird. Das Bundesgericht hielt fest, dass der Beschwerdeführer diese formalen Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt: Er war unter 21 Jahre alt und besass eine über zwei Jahre gültige slowenische Aufenthaltsbewilligung, die als "dauerhaft" eingestuft wurde.
3. Die Problematik des Rechtsmissbrauchs (Art. 51 Abs. 1 lit. a AIG)
Der zentrale Punkt des Urteils ist die Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots gemäss Art. 51 Abs. 1 lit. a AIG. Ein Anspruch erlischt, wenn er rechtsmissbräuchlich geltend gemacht wird, namentlich um die Vorschriften des AIG über die Zulassung und den Aufenthalt zu umgehen.
- Zweck des Familiennachzugs (E. 5.3): Das Bundesgericht betonte, dass die Bestimmungen über den Familiennachzug das Ziel haben, das tatsächlich gelebte Familienleben zu ermöglichen. Der Sinn des Familiennachzugs besteht nicht darin, drittstaatsangehörigen Familienangehörigen unabhängig von einem effektiv gelebten Familienleben ein Aufenthaltsrecht zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu gewähren. Es muss ein minimales tatsächliches (soziales) Familienleben vorbestanden haben, d.h., die Beziehung muss intakt und sachgerecht tatsächlich gelebt worden sein (vgl. BGE 136 II 65 E. 5.2).
- Definition des Rechtsmissbrauchs (E. 5.4): Rechtsmissbrauch setzt der Ausübung eines formal korrekten Anspruchs eine ethisch-materielle Schranke entgegen. Er verhindert die Inanspruchnahme eines Rechtsinstituts zu Zwecken, die dieses nicht schützen will. Nur stossendes, zweckwidriges Verhalten erscheint rechtsmissbräuchlich und soll sanktioniert werden. Der Rechtsmissbrauch muss jedoch offensichtlich sein und auf eindeutigen Hinweisen beruhen, um einem formal gültigen Anspruch ausnahmsweise den Rechtsschutz zu versagen.
- Prüfung des Rechtsmissbrauchs (E. 5.5): Während die tatsächlichen Feststellungen (Indizien) nur auf offensichtliche Unrichtigkeit geprüft werden, ist die Rechtsfrage, ob diese Tatsachen (Indizien) auf einen rechtsmissbräuchlichen Bezug einer Aufenthaltsbewilligung schliessen lassen, frei zu prüfen.
4. Anwendung auf den vorliegenden Fall und Begründung des Gerichts (E. 6)
Das Bundesgericht bestätigte die Schlussfolgerung der Vorinstanz, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorliegt, gestützt auf eine Gesamtwürdigung der festgestellten Tatsachen:
- Fehlende Nutzung des ordentlichen Nachzugs als Minderjähriger (E. 6.3.1): Der Beschwerdeführer nutzte nicht die Möglichkeit des ordentlichen Familiennachzugs als Minderjähriger gemäss Art. 42 Abs. 1 i.V.m. Art. 47 Abs. 1 oder Abs. 4 AIG. Diese Möglichkeit entfiel mit seiner Volljährigkeit. Dies deutet auf eine gezielte Umgehung hin.
- Zeitliche Abfolge und Absicht (E. 6.3.2):
- Obwohl die Vorinstanz eine zumindest zeitweise Hausgemeinschaft in Slowenien feststellte (für das Bundesgericht bindend), liessen die Gesamtumstände nur den Schluss zu, dass von Anfang an das Zusammenleben in der Schweiz das Ziel war.
- Der Beschwerdeführer kehrte nach Ablauf der ersten slowenischen Bewilligung nach Ägypten zurück und ersuchte von dort aus um ein Besuchervisum für die Schweiz.
- Nur wenige Wochen nach Erhalt der zweiten slowenischen Aufenthaltsbewilligung erkundigte er sich bei der Schweizer Botschaft in Slowenien nach einem Visum für langfristige Aufenthalte in der Schweiz.
- Drei Wochen später folgte das Gesuch um definitiven Familiennachzug in die Schweiz.
- Diese enge zeitliche Abfolge und die sofortigen Bestrebungen, in die Schweiz zu kommen, selbst nachdem ein weiteres Zusammenleben mit dem Vater in Slowenien ermöglicht gewesen wäre, sprechen gegen eine genuine Absicht, in Slowenien zu leben.
- Zahlreiche Auslandsreisen, insbesondere in die Schweiz zum Vater, unterstreichen dies.
- Mangelnde Integrationsbemühungen in Slowenien (E. 6.3.3):
- Der Beschwerdeführer setzte seine Schulbildung durch Online-Unterricht an einer ägyptischen Schule fort.
- Er bemühte sich nicht um den Erwerb der slowenischen Sprache oder um andere Integrationsbemühungen (Sprachkurs, Fitnessabo, Fahrprüfung), bis der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs aufgrund der kantonalen Entscheide bereits im Raum stand. Dies erfolgte anderthalb Jahre nach seinem Umzug nach Slowenien.
- Dieses Desinteresse an gesellschaftlicher Teilhabe in Slowenien lässt nicht auf die Absicht eines dauerhaften Verbleibs schliessen.
- Glaubhaftigkeit der Begründung (E. 6.1, 6.4): Die Vorinstanz verwarf die Darstellung, dass die Geschäftsentwicklung des Vaters erst Anfang 2023 einen vermehrten Aufenthalt in der Schweiz erfordert habe, als unglaubhaft. Die Tatsache, dass weitere Geschwister des Beschwerdeführers in der Schweiz leben und er diese oft besuchte, stützt die Annahme, dass die Schweiz das eigentliche Ziel war.
5. Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Zusammenfassend kam das Bundesgericht zum Schluss, dass der Beschwerdeführer nie die Absicht hatte, mit dem Vater oder allein in Slowenien zu leben. Vielmehr war von Anfang an der Plan, dass der Beschwerdeführer zu seinem Vater und seinen Geschwistern in die Schweiz zieht. Die Erlangung der Aufenthaltsbewilligung in Slowenien diente somit einzig dem Zweck, dem Beschwerdeführer einen abgeleiteten Aufenthaltsanspruch in der Schweiz zu verschaffen.
Dieses Verhalten widerspricht dem Zweck des Familiennachzugs gemäss Art. 42 Abs. 2 AIG, nämlich das in einem Drittstaat gelebte Familienleben in der Schweiz fortzusetzen. Es zielt darauf ab, die Bestimmungen von Art. 42 Abs. 1 i.V.m. Art. 47 AIG (ordentlicher Familiennachzug) zu umgehen. Das Bundesgericht befand, dass die Vorinstanz zu Recht einen Rechtsmissbrauch angenommen hat, weshalb keine Grundlage für einen Familiennachzug besteht. Die Beschwerde wurde abgewiesen.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Rechtsgrundlage: Anspruch auf Familiennachzug für drittstaatsangehörige Familienangehörige von Schweizer Bürgern mit dauerhafter EU/EFTA-Aufenthaltsbewilligung (Art. 42 Abs. 2 AIG).
- Formale Erfüllung: Der Beschwerdeführer erfüllte formal die Voraussetzungen (unter 21, Schweizer Vater, dauerhafte slowenische Bewilligung).
- Zweck des Familiennachzugs: Ermöglichung eines tatsächlich gelebten Familienlebens; nicht zur Umgehung von Einreisebestimmungen.
- Rechtsmissbrauch (Art. 51 Abs. 1 lit. a AIG): Der Anspruch erlischt bei missbräuchlicher Geltendmachung. Ein solches Verhalten muss offensichtlich sein.
- Schlüsselfaktoren für Rechtsmissbrauch:
- Kurze Zeitspanne zwischen Erhalt der slowenischen Bewilligung und dem Nachzugsgesuch in die Schweiz.
- Sofortige Bemühungen um einen langfristigen Aufenthalt in der Schweiz nach Erhalt der slowenischen Bewilligung.
- Mangelnde Integrationsbemühungen in Slowenien (keine Sprachkurse, Online-Schule in Ägypten).
- Häufige Reisen in die Schweiz.
- Anwesenheit weiterer Familienangehöriger in der Schweiz.
- Urteil: Die Erlangung der slowenischen Aufenthaltsbewilligung diente einzig dem Zweck, einen Umweg zu schaffen, um einen Aufenthaltsanspruch in der Schweiz zu generieren. Dies wurde als rechtsmissbräuchlich im Sinne von Art. 51 Abs. 1 lit. a AIG eingestuft, was zur Abweisung des Nachzugsgesuchs führte.