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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (9C_121/2024 vom 23. Juni 2025)
I. Einleitung Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (9C_121/2024) befasst sich mit der komplexen Frage der Entschädigung eines Lebendspenders für erlittenen Erwerbsausfall infolge einer Organspende. Der Fall beleuchtet die Abgrenzung zwischen krankenversicherungsrechtlichen und transplantationsrechtlichen Ansprüchen sowie die intertemporale Anwendbarkeit von Rechtsnormen. Insbesondere wird die Rechtsnatur des Anspruchs aus dem Transplantationsgesetz (TranspG) einer eingehenden Prüfung unterzogen, was weitreichende Konsequenzen für die Zuständigkeit der Gerichte hat.
II. Sachverhalt Der 1979 geborene Beschwerdeführer A.__ stellte seiner Schwester am 31. März 2006 eine Niere zur Verfügung. Bei der Organentnahme erlitt er eine Nervenschädigung mit bleibenden Beeinträchtigungen, die ihn an der uneingeschränkten Ausübung seiner Tätigkeit als Baumaler hinderte. Die Invalidenversicherung (IV) erkannte 2011 einen Invaliditätsgrad von 6% und verneinte einen Umschulungsanspruch. Die Organempfängerin war im Zeitpunkt der Organtransplantation bei der Innova Krankenversicherung AG, später bei der vivacare AG (ab 2013), und ab dem 1. Januar 2017 bei der Sumiswalder Krankenkasse (Beschwerdegegnerin) obligatorisch krankenpflegeversichert (OKP). Innova und vivacare leisteten zunächst Zahlungen für den Erwerbsausfall des Beschwerdeführers bis Ende 2014. Vivacare verweigerte jedoch Zahlungen für die Jahre 2015 und 2016. Im Dezember 2020 forderte der Beschwerdeführer von der Sumiswalder Krankenkasse einen Erwerbsausfall von Fr. 938'390.- (für 2015-2020 und bis zum Pensionsalter von 65) zuzüglich Zins. Die Sumiswalder verneinte ihre Leistungspflicht.
III. Vorinstanzliches Verfahren und Entscheid Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies die Beschwerde des A.__ ab. Es stützte sich auf die im Zeitpunkt der Nierenentnahme (31. März 2006) geltende Rechtslage, namentlich aZiff. 1.2 Anhang 1 KLV. Die Anwendbarkeit des erst am 1. Juli 2007 in Kraft getretenen Transplantationsgesetzes verneinte es. Das Gericht hielt fest, dass ein Versichererwechsel keine Bindung an die Leistungsentscheide der Vorversicherer bewirke. Die Entscheide von Innova und vivacare, Erwerbsausfälle bis Ende 2014 zu entschädigen, seien für die Sumiswalder nicht bindend. Schliesslich interpretierte das Verwaltungsgericht aZiff. 1.2 Anhang 1 KLV dahingehend, dass der Erwerbsausfall der organspendenden Person nur vorübergehend und für eine beschränkte Zeit nach der Organentnahme zu tragen sei, nicht aber dauerhaft über den 1. Januar 2017 hinaus.
IV. Rügen des Beschwerdeführers vor Bundesgericht Der Beschwerdeführer machte vor Bundesgericht im Wesentlichen geltend, die Anerkennung der Leistungspflicht durch die Vorversicherer müsse für die Sumiswalder verbindlich sein. Er argumentierte, dass das Transplantationsgesetz, und nicht aZiff. 1.2 Anhang 1 KLV, anwendbar sei, da es um einen fortlaufenden Sachverhaltskomplex nach 2017 gehe. Unabhängig von der anwendbaren Norm sei aber nach beiden Bestimmungen (aZiff. 1.2 Anhang 1 KLV oder Art. 14 Abs. 2 TranspG) eine "angemessene Entschädigung" für den effektiv erlittenen Erwerbsausfall geschuldet, was eine dauerhafte Leistung bei dauerhafter Schädigung umfasse.
V. Erwägungen des Bundesgerichts
1. Anwendbares Recht (Intertemporalrecht) Das Bundesgericht stellte fest, dass die Organentnahme zwar 2006 erfolgte, die daraus resultierende gesundheitliche Beeinträchtigung und der geltend gemachte Erwerbsausfall jedoch ununterbrochen andauern. In solchen Fällen von "Dauersachverhalten" (zeitlich offene Sachverhalte) ist das zum Zeitpunkt der Leistungserbringung geltende Recht massgeblich. Es handelt sich hierbei um eine zulässige "unechte Rückwirkung" des neuen Rechts, das heisst, das neue Recht findet für die Zeit ab seinem Inkrafttreten Anwendung (ex nunc et pro futuro), sofern keine wohlerworbenen Rechte entgegenstehen. Folglich war nicht die alte Ziff. 1.2 Anhang 1 KLV anwendbar, sondern die ab 2015 geltenden Bestimmungen, insbesondere das Transplantationsgesetz. Dies korrigierte die Rechtsanwendung der Vorinstanz fundamental.
2. Krankenversicherungsrechtliche Aspekte (KVG) Das Bundesgericht prüfte zunächst, ob der geltend gemachte Anspruch direkt auf krankenversicherungsrechtliche Bestimmungen gestützt werden kann: * Bindungswirkung: Es bestätigte die Vorinstanz dahingehend, dass die Entscheidungen der Vorversicherer (Innova, vivacare) für die Sumiswalder keine bindende Wirkung entfalteten. Die Leistungspflicht eines neuen Versicherers ergibt sich aus den gesetzlichen Vorgaben, nicht aus der Praxis früherer Versicherer. Ein Vertrauensschutz ist nicht gegeben. * Zeitlicher Geltungsbereich: Die Sumiswalder ist im Rahmen der OKP nur für den Zeitraum zuständig, in dem die Organempfängerin bei ihr versichert war (1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2022). Ansprüche für die Jahre 2015/2016 oder ab 2023 können von der Sumiswalder nicht im Rahmen des KVG abgegolten werden (sog. Behandlungsprinzip). * Direkter Anspruch des Spenders unter KVG: Das Bundesgericht verneinte einen direkten Anspruch des Organspenders gegenüber dem OKP-Versicherer der Organempfängerin. Das KVG sieht Leistungen "bei Krankheit" für die versicherte Person vor. Der Organspender ist in Bezug auf seine Spende nicht der "Kranke" im Sinne des KVG und auch nicht die versicherte Person beim OKP-Versicherer der Empfängerin. Ein direkter Anspruch einer nicht versicherten Person ist im KVG nicht vorgesehen. Die in Ziff. 1.2 Anhang 1 KLV genannte "Einschliessung" des Spenderaufwands bezieht sich auf die Leistung an die Empfängerin für die Transplantation, nicht auf die Begründung eines eigenen Versicherungsverhältnisses oder Direktanspruchs des Spenders. Eine solche Ausweitung des KVG-Leistungskatalogs könnte nicht auf Verordnungsstufe (KLV) ohne gesetzliche Grundlage im KVG erfolgen.
3. Transplantationsrechtliche Aspekte (TranspG) und die Rechtsnatur des Anspruchs Da ein krankenversicherungsrechtlicher Direktanspruch verneint wurde, wandte sich das Gericht dem Transplantationsgesetz zu, insbesondere Art. 14 Abs. 2 lit. b TranspG, der eine "angemessene Entschädigung für den Erwerbsausfall oder anderen Aufwand" statuiert. Hier stellte sich die fundamentale Frage nach der Rechtsnatur dieses Anspruchs (Privatrecht, Sozialversicherungsrecht oder übriges Verwaltungs-/Gesundheitsrecht), da dies über die sachliche Zuständigkeit der Gerichte entscheidet.
Auslegung von Art. 14 Abs. 2 TranspG:
Abgrenzung von Privat- und Öffentlichem Recht (Methodenpluralismus): Das Bundesgericht wendete die Methoden der Interessen-, Funktions- und Subordinationstheorie an:
Entscheidung der Rechtsnatur durch das Bundesgericht: In einem Verfahren nach Art. 23 Abs. 2 BGG (interne Konsultation verschiedener Abteilungen) wurde abschliessend entschieden: Der Anspruch eines Organspenders nach Art. 14 Abs. 2 lit. b Transplantationsgesetz gegenüber dem OKP-Versicherer der Organempfängerin ist nicht privatrechtlicher, sondern öffentlich-rechtlicher Natur. Er hat jedoch nicht sozialversicherungsrechtlichen Charakter, sondern zählt zum übrigen Verwaltungsrecht bzw. zum Gesundheitsrecht des Bundes.
VI. Fazit und Dispositiv des Bundesgerichts * Krankenversicherungsrechtliche Ansprüche: Das Bundesgericht wies die Beschwerde in Bezug auf krankenversicherungsrechtliche Ansprüche ab, da ein direkter Anspruch des Spenders gegenüber dem OKP-Versicherer der Empfängerin mangels versicherungsrechtlicher Grundlage nicht besteht. * Transplantationsrechtliche Ansprüche: Hinsichtlich der transplantationsrechtlichen Ansprüche (Art. 14 Abs. 2 lit. b TranspG) hob das Bundesgericht den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau aus formellen Gründen auf. Da der Anspruch dem übrigen Verwaltungs- bzw. Gesundheitsrecht des Bundes zugeordnet wird, war das kantonale Sozialversicherungsgericht sachlich nicht zuständig. Es hätte die Sache stattdessen an das Bundesverwaltungsgericht überweisen müssen. Das Bundesgericht überweist die Sache in analoger Anwendung von Art. 30 Abs. 2 BGG zur Beurteilung an das Bundesverwaltungsgericht. * Kosten: Aus Umständen wurde von der Erhebung von Gerichtskosten abgesehen.
VII. Wesentliche Punkte der Zusammenfassung 1. Intertemporales Recht: Für fortgesetzte Erwerbsausfälle nach einer Organspende ist das zum Zeitpunkt der Geltendmachung (ab 2015) geltende Recht (insb. TranspG), nicht das Recht zur Zeit der Spende (2006), anwendbar (unechte Rückwirkung). 2. KVG-Anspruch verneint: Der Organspender hat keinen direkten Anspruch auf Entschädigung seines Erwerbsausfalls gegenüber dem OKP-Versicherer der Organempfängerin, da er nicht die versicherte Person ist und der Anspruch nicht in den Leistungskatalog des KVG fällt. 3. Rechtsnatur des TranspG-Anspruchs (Art. 14 Abs. 2 lit. b): Der Anspruch auf Erwerbsausfallentschädigung für den Lebendspender ist öffentlich-rechtlicher Natur, gehört jedoch nicht zum Sozialversicherungsrecht, sondern zum übrigen Verwaltungsrecht bzw. Gesundheitsrecht des Bundes. Dies wurde in einem interdepartementalen Entscheid (Art. 23 Abs. 2 BGG) explizit klargestellt, basierend auf dem Gesetzgeberwillen (Botschaft von 2013) und systematischen Argumenten. 4. Konsequenz für die Zuständigkeit: Aufgrund dieser Rechtsnatur war das kantonale Sozialversicherungsgericht (Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau) für die Beurteilung des Transplantationsrechtlichen Anspruchs sachlich nicht zuständig. Die Sache wird an das Bundesverwaltungsgericht überwiesen. 5. Urteilsausgang: Die Beschwerde wurde im KVG-Teil abgewiesen, im TranspG-Teil aus formellen (Zuständigkeits-)Gründen gutgeheissen und zur weiteren Behandlung an die korrekte Instanz verwiesen.