Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_646/2024 vom 11. Juni 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des bereitgestellten Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts:

Bundesgericht, Urteil vom 11. Juni 2025, 6B_646/2024 und 6B_713/2024

Einleitung

Das Urteil betrifft zwei miteinander verbundene Beschwerden in Strafsachen vor dem Schweizerischen Bundesgericht: eine Beschwerde des Verurteilten A.__ (Verfahren 6B_646/2024) gegen seine Verurteilung und eine Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Verfahren 6B_713/2024) hinsichtlich der Qualifikation einer der Straftaten. Gegenstand des Verfahrens sind im Wesentlichen Vorwürfe der mehrfachen groben Verletzung der Verkehrsregeln sowie Delikte gegen die sexuelle Integrität (Gewaltdarstellungen, Pornografie). Die Beschwerden richten sich gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 3. April 2024. Das Bundesgericht hat die beiden Verfahren aufgrund ihres engen sachlichen Zusammenhangs vereinigt.

Massgebende Punkte und rechtliche Argumente

Die zentralen Streitpunkte, mit denen sich das Bundesgericht im Detail auseinandersetzt, betreffen die Verwertbarkeit von Beweismitteln, die aus der Durchsuchung eines beschlagnahmten Mobiltelefons gewonnen wurden (Siegelung/Entsiegelung), sowie die Frage, ob die festgestellten groben Verkehrsregelverletzungen vorsätzlich oder lediglich fahrlässig begangen wurden.

  1. Verwertbarkeit der Beweismittel aus dem Mobiltelefon (Siegelung/Entsiegelung)

    • Problemaufriss: A.__ beantragte seinen Freispruch und die Herausgabe seines Mobiltelefons, gestützt auf die Argumentation, die durch die Auswertung des Telefons erlangten Beweise seien unverwertbar. Er machte geltend, die Durchsuchung verletze den Grundsatz "nemo tenetur se ipsum accusare" (Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten), da er im Entsiegelungsverfahren die Bekanntgabe der Zugangscodes verweigert habe. Er argumentierte, das Zwangsmassnahmengericht hätte das Telefon mittels Spezialdiensten knacken müssen, wie es das Bundesgericht in anderen Fällen (z.B. Urteil 1B_376/2019) erwogen habe, anstatt es der Staatsanwaltschaft zur Durchsuchung zu überlassen. Eine Triage durch Polizei oder Staatsanwaltschaft sei unzulässig.
    • Vorinstanzliche Argumentation: Das Obergericht stützte sich auf die Rechtskraft einer Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts vom 10. Oktober 2018. Diese Verfügung war nach einem Rückweisungsurteil des Bundesgerichts (1B_555/2017) ergangen und hatte das Entsiegelungsgesuch erneut teilweise gutgeheissen und die Freigabe des Telefons zur Durchsuchung angeordnet. Das Obergericht argumentierte, diese Verfügung sei in Rechtskraft erwachsen, da A.__ dagegen kein Rechtsmittel ergriffen habe. Eine Überprüfung der Rechtmässigkeit einer rechtskräftigen Entsiegelungsverfügung durch das Sachgericht sei nicht möglich. Das Obergericht verneinte auch eine Nichtigkeit der Verfügung vom 10. Oktober 2018, da keine krassen Verfahrensfehler oder funktionelle/sachliche Unzuständigkeit vorgelegen hätten.
    • Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht bestätigt die Auffassung des Obergerichts. Es erinnert an die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Nichtigkeit von Entscheiden (BGE 147 IV 93 E. 1.4.4 u.a.): Nichtigkeit liegt nur bei besonders schweren, offensichtlichen und leicht erkennbaren Mängeln vor, die die Rechtssicherheit nicht ernsthaft gefährden. Inhaltliche Mängel führen nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Entsiegelungsverfügung vom 10. Oktober 2018 wurde nicht mit Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht angefochten und ist daher in Rechtskraft erwachsen. Die Prüfung der Rechtmässigkeit dieser Verfügung ist im vorliegenden Verfahren nicht mehr möglich.
    • Das Bundesgericht geht auch auf die Eventualerwägung der Vorinstanz ein, die sich mit dem Inhalt der Verfügung vom 10. Oktober 2018 befasste. Die Vorinstanz hatte (korrekt) festgestellt, dass das Zwangsmassnahmengericht in dieser zweiten Verfügung die Entsiegelungsvoraussetzungen eingehend geprüft habe. Sie verwies auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Substanziierungsobliegenheit des Siegelungsberechtigten im Entsiegelungsverfahren (Art. 248 Abs. 1 StPO i.V.m. BGE 142 IV 207, 141 IV 77). Diese Obliegenheit verlang, dass der Betroffene die von ihm angerufenen Geheimhaltungsinteressen substanziiert darlegt und die dem Schutz unterliegenden Aufzeichnungen oder Dateien benennt. Pauschale Hinweise genügen nicht. Die Vorinstanz (und vom Bundesgericht bestätigt) stellte fest, dass A.__ dieser Obliegenheit nicht nachgekommen sei, da er die Herausgabe der Zugangscodes verweigert und damit eine Triage verunmöglicht habe. Das Zwangsmassnahmengericht sei in diesem Fall berechtigt gewesen, die Entsiegelung zu verfügen.
    • Das Bundesgericht unterscheidet diesen Fall explizit vom Urteil 1B_376/2019, das A.__ anführt. In jenem Fall wurde eine angefochtene Entsiegelungsverfügung als gesetzeswidrig aufgehoben, weil das Zwangsmassnahmengericht trotz festgestellter Geheimnisinteressen eine Triage unterlassen und die Entsiegelung vollumfänglich gutgeheissen hatte, obwohl das Knacken des Telefons möglich und im Rahmen des Entsiegelungsverfahrens geboten gewesen wäre. Im vorliegenden Fall hingegen wurde die massgebliche Verfügung vom 10. Oktober 2018 nicht angefochten. Ihre Rechtskraft verhindert eine spätere Überprüfung der Rechtmässigkeit, solange keine Nichtigkeit vorliegt.
    • Schlussfolgerung des Bundesgerichts zu Punkt 1: Die durch die Auswertung des Mobiltelefons erlangten Beweise sind verwertbar. A.__'s Antrag auf Freispruch basierend auf Beweisunverwertbarkeit wird abgewiesen.
  2. Subjektive Tatbestandsmässigkeit der groben Verkehrsregelverletzung (Vorsatz vs. Fahrlässigkeit)

    • Problemaufriss: Die Oberstaatsanwaltschaft Zürich beantragt, A.__ sei wegen mehrfacher vorsätzlicher grober Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG) schuldig zu sprechen, während das Obergericht ihn nur wegen mehrfacher fahrlässiger grober Verletzung verurteilt hatte.
    • Gesetzliche Grundlagen: Das Bundesgericht erläutert die relevanten Strassenverkehrsvorschriften: Art. 31 Abs. 1 SVG (ständige Beherrschung des Fahrzeugs, Einhaltung der Vorsichtspflichten), Art. 3 Abs. 1 und 3 VRV (Aufmerksamkeit auf Strasse und Verkehr, keine Behinderung durch Verrichtungen, Lenkvorrichtung nicht loslassen). Art. 90 Abs. 2 SVG erfasst grobe Verkehrsregelverletzungen, die eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorrufen oder in Kauf nehmen (objektiver Tatbestand: objektiv schwerwiegende Missachtung wichtiger Vorschriften, erhöhte abstrakte Gefährdung, d.h. Nähe der Verwirklichung einer konkreten Gefährdung). Subjektiv erfordert Art. 90 Abs. 2 SVG ein schweres Verschulden, bei fahrlässiger Begehung mindestens grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit kann auch bei unbewusster Fahrlässigkeit vorliegen, wenn das Nichtbedenken auf Rücksichtslosigkeit beruht. Vorsatz (Art. 12 Abs. 2 StGB), insbesondere Eventualvorsatz, liegt vor, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält und diese in Kauf nimmt bzw. sich damit abfindet.
    • Vorinstanzliche Argumentation: Das Obergericht stellte fest, dass A._ objektiv eine grobe Verkehrsregelverletzung begangen habe, indem er gleichzeitig mit der rechten Hand filmte und die linke Hand demonstrativ vom Lenkrad nahm, die Hände zeitweise hinter dem Kopf verschränkte und zeitweise die Augen schloss. Er habe dadurch die essenziellen Vorschriften von Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 3 VRV verletzt. Das Loslassen des Lenkrads zur Prahlerei sei rücksichtslos. Er habe die pflichtgemässe Vorsicht über längere Zeit vernachlässigt, da er in einer Notsituation oder bei einer Fehlfunktion des Autopiloten nicht rechtzeitig hätte eingreifen können. Dies stelle eine ernstliche Gefahr dar. Trotz dieser Feststellungen kam das Obergericht subjektiv zum Schluss, A._ habe nur grobfahrlässig gehandelt, weil er darauf vertraut habe, dass der Autopilot funktioniere. Ein im Urteil verwendeter Satz, der von "vorsätzlicher grober Verletzung" sprach, wurde vom Obergericht nachträglich als redaktionelles Versehen bezeichnet.
    • Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht teilt die Auffassung der Oberstaatsanwaltschaft und erachtet die Rüge als berechtigt.
      • Das Bundesgericht analysiert die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit. Beide erfordern Wissen um die Möglichkeit des Erfolgseintritts/Risikos. Der Unterschied liegt im Willensmoment: Nimmt der Täter den Erfolg in Kauf oder vertraut er auf dessen Ausbleiben? Die Beurteilung erfolgt aufgrund der Umstände (Risikogrösse, Sorgfaltspflichtverletzung, Beweggründe, Art der Handlung).
      • Das Bundesgericht stellt fest, dass die vom Obergericht verbindlich festgestellten Fakten (bewusstes Filmen, bewusstes Loslassen des Lenkrads, Kommentare, Hände hinter dem Kopf, zeitweise Augen geschlossen) eindeutig darauf hindeuten, dass A.__ mit Wissen und Willen gehandelt hat. Er hat nicht nur das Loslassen des Lenkrads und das Nichtbeherrschen des Fahrzeugs gewollt, sondern auch die damit verbundene Gefährdung für möglich gehalten.
      • Das Argument des Obergerichts, er habe auf die Funktion des Autopiloten vertraut, greift nach Ansicht des Bundesgerichts nicht durch. Dieses Vertrauen ändert nichts am Wissen und Willen bezüglich der Handlung (Hände weg vom Lenkrad) und der Akzeptanz des Risikos. Das Bundesgericht hebt hervor, dass das Obergericht selbst feststellte, A.__ hätte im Notfall oder bei Fehlfunktion nicht rechtzeitig eingreifen können. Dies gelte erst recht, nachdem er zeitweise die Augen schloss.
      • Das Obergericht habe in seinen Erwägungen zum objektiven Tatbestand festgestellt, dass A.__ "über längere Zeit die pflichtgemässe Vorsicht vernachlässigte, welche nicht durch einen Autopiloten ersetzt werden konnte". Vor diesem Hintergrund sei der Schluss auf blosse Grobfahrlässigkeit nicht nachvollziehbar.
      • Das Bundesgericht betont, dass einem Fahrzeuglenker, insbesondere einem aus der Autobranche, die Einschränkungen und Warnhinweise bezüglich des Autopiloten (permanente Kontrolle notwendig, keine Sicherheit ohne Aufmerksamkeit des Lenkers) bekannt sein mussten. Indem A.__ bewusst gegen diese Pflichten verstiess und dabei eine ernsthafte Gefahr schuf und diese Möglichkeit in Kauf nahm (was sich aus seinem Verhalten und den Kommentaren ableiten lässt), handelte er vorsätzlich, mindestens mit Eventualvorsatz.
      • Schlussfolgerung des Bundesgerichts zu Punkt 2: Das Obergericht hat Art. 12 StGB falsch angewendet und Art. 90 Abs. 2 SVG unzutreffend auf den subjektiven Tatbestand bezogen. A.__ ist wegen mehrfacher vorsätzlicher grober Verletzung der Verkehrsregeln schuldig zu sprechen.

Entscheid im Ergebnis

Die Beschwerde von A._ (6B_646/2024) wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. Die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft (6B_713/2024) wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts wird insoweit aufgehoben, als A._ wegen fahrlässiger grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Stattdessen wird er wegen mehrfacher vorsätzlicher grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Da die Staatsanwaltschaft das Strafmass nicht angefochten hat, sieht das Bundesgericht von einer Rückweisung an die Vorinstanz zur Neufestsetzung der Strafe ab.

Die Kosten des Verfahrens werden dem unterliegenden A.__ auferlegt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigt die Verwertbarkeit von Beweismitteln aus einem versiegelten Mobiltelefon, da die massgebende Entsiegelungsverfügung des Zwangsmassnahmengerichts rechtskräftig wurde, weil sie nicht angefochten wurde, und auch nicht nichtig ist. Die Nichteinhaltung der Substanziierungsobliegenheit durch den Beschuldigten (Verweigerung der Zugangscodes) entband das Zwangsmassnahmengericht davon, von Amtes wegen nach Geheimnissen zu forschen.

Weiter korrigiert das Bundesgericht die Qualifikation der groben Verkehrsregelverletzungen von fahrlässig zu vorsätzlich. Der Beschuldigte handelte mit Wissen und Willen, indem er bewusst die Hände vom Lenkrad nahm und filmte, wodurch er eine ernsthafte Gefahr für den Verkehr schuf. Sein Vertrauen in den Autopiloten ändert nichts daran, dass er die gefährliche Handlung beabsichtigte und die daraus resultierende Gefährdung zumindest in Kauf nahm.