Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_401/2024 vom 4. Juni 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des bereitgestellten Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts:

Bundesgerichtsurteil 9C_401/2024, 9C_535/2024 vom 4. Juni 2025

Gegenstand: Krankenversicherung, Änderung der Krankenversicherungsverordnung des Kantons Thurgau (TG KVV) und Festlegung von Ausbildungskapazitäten für ambulante Krankenpflegeorganisationen.

Parteien: * Beschwerdeführer: A._ AG (Spitex-Organisation im Kanton Thurgau, tätig in der Angehörigenpflege) und B._ (Geschäftsführer/Teilhaber der A.__ AG). * Beschwerdegegner: Regierungsrat des Kantons Thurgau.

Kontext und Hintergrund: Das Urteil steht im Kontext der Umsetzung der eidgenössischen Pflegeinitiative (Art. 117b BV), insbesondere durch das Bundesgesetz über die Förderung der Ausbildung im Bereich der Pflege (FAPG), welches die Kantone zur Bedarfsermittlung und Festlegung von Kriterien für die Ausbildungskapazitäten von Pflegefachpersonen verpflichtet. Im Kanton Thurgau wurden hierzu das kantonale Krankenversicherungsgesetz (TG KVG) und dessen Verordnung (TG KVV) angepasst. Die Beschwerdeführerin ist eine Spitex-Organisation, die nach eigenen Angaben ihr Kerngeschäft in der Erbringung von Grundpflege durch nicht-fachlich ausgebildete Angehörige pflegebedürftiger Personen (sog. Angehörigenpflege) sieht.

Anfechtungsobjekte: Die Beschwerdeführer fochten im Wesentlichen drei kantonale Hoheitsakte an: 1. Die Änderung der TG KVV vom 11. Juni 2024, insbesondere neue Bestimmungen zur nicht universitären Aus- und Weiterbildung (§§ 70a-70g TG KVV), welche eine Ausbildungsverpflichtung und eine Ersatzabgabe bei Nichterfüllung vorsehen. (Verfahren 9C_401/2024) 2. Den Beschluss des Regierungsrates (RRB Nr. 495) vom 25. Juni 2024, welcher die konkreten Soll-Ausbildungsleistungen (Praktikumswochen HF/FH) für einzelne Leistungserbringer, einschliesslich der Beschwerdeführerin, festlegte. (Verfahren 9C_401/2024) 3. Den Beschluss des Regierungsrates (RRB Nr. 582) vom 27. August 2024, welcher RRB Nr. 495 ersetzte und ebenfalls die konkreten Soll-Ausbildungsleistungen für einzelne Leistungserbringer festlegte (mit einem höheren Wert für die Beschwerdeführerin). (Verfahren 9C_535/2024)

Zusammenlegung der Verfahren: Das Bundesgericht beschloss, die beiden Verfahren 9C_401/2024 und 9C_535/2024 zu vereinigen, da sie dieselben Parteien betreffen, weitgehend identisch sind und ähnliche Rechtsfragen aufwerfen.

Prüfung der Zulässigkeit (Eintretensvoraussetzungen): Das Gericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerden. * Änderung der TG KVV: Die Änderung der TG KVV ist ein kantonaler Erlass (generell-abstrakte Regelung) im Sinne von Art. 82 lit. b BGG. Da nach kantonalem Recht kein kantonales Rechtsmittel gegen Erlasse zur Verfügung steht (§ 54 Abs. 1bis Ziff. 1 TG VRG), ist die direkte Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht zulässig (Art. 87 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht bejahte die Beschwerdelegitimation der Beschwerdeführerin als betroffene Spitex-Organisation und des Beschwerdeführers als deren Geschäftsführer/Teilhaber, da die angefochtenen Bestimmungen über die Ausbildungsverpflichtung und Ersatzabgabe (§§ 70a-70e TG KVV) sie aktuell bzw. virtuell besonders berühren. Die Beschwerde gegen diese Bestimmungen der TG KVV ist somit zulässig. * RRB Nr. 495 und RRB Nr. 582: Die Beschlüsse des Regierungsrates, mit denen konkrete Ausbildungsleistungen für einzelne Leistungserbringer festgelegt wurden, sind keine Erlasse, sondern Verfügungen (individuell-konkrete Anordnungen), auch wenn sie einen genau definierten Adressatenkreis betreffen (Allgemeinverfügung). Gemäss Bundesrecht (Art. 86 Abs. 2 BGG) ist gegen Verfügungen kantonaler Regierungen grundsätzlich ein kantonales "oberes Gericht" (hier das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau) als Vorinstanz des Bundesgerichts zuständig. Da der kantonale Instanzenzug für diese Verfügungen nicht ausgeschöpft wurde (die Beschwerdeführer hätten zuerst ans Verwaltungsgericht gelangen müssen), sind die Beschwerden gegen RRB Nr. 495 und RRB Nr. 582 am Bundesgericht unzulässig. Das Bundesgericht entschied, diese Angelegenheiten in analoger Anwendung von Art. 30 Abs. 2 BGG zur Behandlung zuständigkeitshalber an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zu überweisen. * Antrag auf Erlass einer konformen Regelung: Der allgemeine Antrag, den Kanton zu verpflichten, eine bundesrechts- und verfassungsrechtskonforme Regelung zu erlassen, wurde mangels Begründung, fehlendem schutzwürdigem Interesse und dem Grundsatz der Gewaltenteilung (das Bundesgericht erlässt keine Legiferierungsaufträge) als unzulässig abgewiesen.

Kognition des Bundesgerichts (für den zulässigen Teil): Für die Prüfung der Änderung der TG KVV (§§ 70a-70e) führte das Bundesgericht eine abstrakte Normenkontrolle durch. Dabei prüft es die Bundesrechtskonformität grundsätzlich frei, aber mit einer gewissen Zurückhaltung bei kantonalen Erlassen, insbesondere im Hinblick auf Föderalismus und Verhältnismässigkeit. Eine kantonale Norm wird nur aufgehoben, wenn sie nicht bundesrechtskonform (verfassungskonform) interpretiert werden kann.

Materielle Prüfung der §§ 70a-70e TG KVV:

  1. Gesetzliche Grundlage und kantonale Kompetenz:

    • Die Beschwerdeführer machten geltend, es fehle eine ausreichende gesetzliche Grundlage im FAPG und in Art. 117b BV für eine kantonale Ausbildungsverpflichtung und Ersatzabgabe, und die kantonalen Regelungen gingen über die Bundesvorgaben hinaus.
    • Das Bundesgericht widersprach dieser Ansicht. Die Zuständigkeit für die Regelung der Ausbildung von Pflegefachpersonen auf Tertiärstufe (HF/FH) liegt grundsätzlich bei den Kantonen (Art. 42, 43, 63a ff. BV). Weder Art. 66 BV noch Art. 117b BV noch die Regelungen zur medizinischen Grundversorgung (Art. 117a BV, Art. 36a Abs. 3 KVG, Art. 51 KVV) beschneiden diese kantonale Zuständigkeit. Die Ausbildungsverpflichtung und Sanktionsmöglichkeit sind grundsätzlich im Rahmen der kantonalen Kompetenzen zulässig.
    • Das Bundesgericht bejahte auch das Vorliegen einer formellgesetzlichen Grundlage gemäss Art. 36 Abs. 1 BV in § 22a TG KVG, der den Kreis der Betroffenen (Spitex mit OKP-Zulassung), Grundzüge des Umfangs (Betriebsgrösse, kantonaler Bedarf) und der Ersatzabgabe (max. 150% der Kosten) regelt. Eine mangelnde Bestimmtheit dieser Grundlage wurde von den Beschwerdeführern nicht substanziiert dargelegt.
  2. Vereinbarkeit mit Art. 3 FAPG (Kriterien zur Festlegung der Ausbildungskapazitäten):

    • Art. 3 FAPG verpflichtet die Kantone, Kriterien für die Berechnung der Ausbildungskapazitäten festzulegen, wobei "insbesondere" die Anzahl Angestellte, die Struktur und das Leistungsangebot zu berücksichtigen sind.
    • Die Beschwerdeführer kritisierten, dass § 70c Abs. 4 TG KVV, der die Aufteilung der Kapazität auf einzelne Leistungserbringer regelt, nur das Kriterium der "zulasten der Sozialversicherungen verrechneten Leistungen" nenne und somit Art. 3 FAPG sowie das Willkürverbot und den Gleichbehandlungsgrundsatz verletze, indem er die Besonderheiten von Spitex-Organisationen mit Fokus auf Angehörigenpflege ignoriere.
    • Das Bundesgericht hielt fest, dass § 70c TG KVV verschiedene Kriterien aufzählt und § 70c Abs. 4 TG KVV durch die Verwendung des Begriffs "insbesondere" Raum für die Berücksichtigung weiterer Kriterien belässt. Das Gericht betonte, dass das Kriterium der "zulasten der Sozialversicherungen verrechneten Leistungen" grundsätzlich so ausgelegt werden kann, dass nur Leistungen von ausgebildetem Pflegepersonal berücksichtigt werden, wie von den Beschwerdeführern gefordert. Da eine solche bundesrechtskonforme Auslegung möglich ist, sah das Bundesgericht keinen Grund, die Bestimmung in der abstrakten Normenkontrolle aufzuheben. Die konkrete Anwendung auf den Einzelfall wurde dem zuständigen Verwaltungsgericht überlassen.
  3. Grundrechtskonformität (Art. 36 BV):

    • Die Beschwerdeführer machten geltend, die Ausbildungs- und Ersatzabgabepflicht verletze die Institutsgarantie (Art. 26 BV) und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV), da sie das Geschäftsmodell der Angehörigenpflege verunmögliche und nicht durch ein genügendes öffentliches Interesse gedeckt sei.
    • Das Bundesgericht prüfte die Grundrechtseinschränkungen anhand von Art. 36 BV:
      • Öffentliches Interesse (Abs. 2): Das öffentliche Interesse an einer ausreichenden und qualitativ hochstehenden Pflegeversorgung ist nach Auffassung des Gerichts unbestritten und rechtfertigt die Massnahmen grundsätzlich. Die Behauptung, dass die Regelung der Angehörigenpflege entgegenläuft, wurde als Frage der Anwendung im Einzelfall gewertet, die die grundsätzliche Zulässigkeit der Norm nicht in Frage stellt.
      • Kerngehalt (Abs. 4): Der Kerngehalt der Eigentumsgarantie wird durch die Regelungen nicht verletzt. Auch wenn ein spezifisches Geschäftsmodell (Angehörigenpflege) durch die Pflichten erschwert oder potentiell existenzgefährdet werden kann, ist dies kein Eingriff in das Institut des Eigentums als solches. Das überragende öffentliche Interesse an der Behebung des Pflegemangels überwiegt das private Interesse an der Beibehaltung einer bestimmten Organisationsstruktur ohne diese Pflichten.
      • Verhältnismässigkeit (Abs. 3):
        • Eignung und Erforderlichkeit: Das Gericht erachtete die Einführung einer Ausbildungsverpflichtung als geeignet, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Erforderlichkeit wurde bejaht, da der Gesetzgeber finanzielle Anreize allein als nicht ausreichend betrachtete und die Notwendigkeit solcher Verpflichtungen im Rahmen der Umsetzung des FAPG gesehen wurde (Botschaft des Bundesrates). Ein Vergleich mit Regelungen in anderen Kantonen wurde herangezogen, um zu zeigen, dass Ersatzabgaben üblich sind.
        • Zumutbarkeit (Verhältnismässigkeit im engeren Sinne): Die Argumente der Beschwerdeführer, die sich auf die angebliche Unzumutbarkeit für das Angehörigenpflege-Modell (wegen Kriterium der verrechneten Leistungen) und die Höhe der Ersatzabgabe bezogen, wurden vom Gericht zurückgewiesen. Bezüglich des Kriteriums der verrechneten Leistungen wiederholte das Gericht, dass eine bundesrechtskonforme Auslegung, die nur Leistungen von Fachpersonal berücksichtigt, möglich ist. Zudem können Leistungserbringer Ausbildungskooperationen eingehen, um die Pflicht zu erfüllen, was die Zumutbarkeit erhöht. Bezüglich der Höhe der Ersatzabgabe (Fr. 3'600.- pro Praktikumswoche) befand das Gericht, dass die Beschwerdeführer die Unverhältnismässigkeit nicht hinreichend substanziiert dargelegt hätten. Vergleiche mit anderen Kantonen seien ohne weiteres nicht aussagekräftig, und die Rüge, dass verrechenbare Leistungen der Auszubildenden oder "externe" Kosten nicht berücksichtigt worden seien, sei nicht ausreichend begründet, um eine unvernünftige Zweck-Mittel-Relation oder Unzumutbarkeit zu belegen.

Ergebnis der materiellen Prüfung: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die angefochtenen Bestimmungen der §§ 70a bis 70e TG KVV in der abstrakten Normenkontrolle nicht als bundesrechts- oder verfassungsrechtswidrig erwiesen wurden. Eine Aufhebung dieser Normen ist daher nicht veranlasst. Die Beschwerde ist insoweit unbegründet.

Schlussfolgerung und Dispositiv: Das Bundesgericht hat die Verfahren vereinigt. Die Beschwerde im Verfahren 9C_401/2024 wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde (betreffend §§ 70a-70e TG KVV). Auf die Beschwerde im Verfahren 9C_535/2024 (gegen RRB Nr. 582) wurde nicht eingetreten. Die Angelegenheiten betreffend die konkreten Regierungsratsbeschlüsse (RRB Nr. 495 und RRB Nr. 582) wurden zuständigkeitshalber an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau überwiesen. Die Gerichtskosten für das Verfahren 9C_401/2024 wurden den Beschwerdeführern auferlegt. Bezüglich des Verfahrens 9C_535/2024 wurden keine Gerichtskosten erhoben (da die Beschwerde unnötige Kosten verursachte durch den Ersatz des RRB lite pendente), und der Beschwerdegegner wurde zur Parteientschädigung der Beschwerdeführer verpflichtet.

Zusammenfassende Darstellung der wesentlichen Punkte:

  1. Das Bundesgericht beurteilte die kantonalen Verordnungsbestimmungen (§§ 70a-70e TG KVV) im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle als zulässig und wies die entsprechende Beschwerde ab.
  2. Die konkreten Regierungsratsbeschlüsse zur Festlegung der Ausbildungskapazitäten (RRB Nr. 495 und 582) wurden als Verfügungen qualifiziert. Die Beschwerden dagegen waren am Bundesgericht unzulässig, da der kantonale Instanzenzug nicht ausgeschöpft war. Diese Angelegenheiten wurden an das kantonale Verwaltungsgericht überwiesen.
  3. Das Bundesgericht bestätigte die grundsätzliche kantonale Kompetenz zur Regelung von Ausbildungsverpflichtungen für Pflegefachpersonen und zur Erhebung von Ersatzabgaben.
  4. Die angefochtenen Verordnungsbestimmungen wurden als vereinbar mit Art. 3 FAPG und den Grundrechten (Eigentum, Wirtschaftsfreiheit, Verhältnismässigkeit) beurteilt. Das Gericht betonte die Möglichkeit einer bundesrechtskonformen Auslegung des Kriteriums der "verrechneten Leistungen" und sah das grosse öffentliche Interesse am Pflegepersonal als überwiegend an, auch wenn das Geschäftsmodell der Angehörigenpflege betroffen sein mag.
  5. Die Höhe der Ersatzabgabe wurde in der abstrakten Prüfung nicht als offensichtlich unverhältnismässig befunden, da die Beschwerdeführer die Argumente des Kantons nicht ausreichend widerlegt hatten.