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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_952/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts:
Bundesgerichtsurteil 6B_952/2024 vom 4. Juni 2025
Gegenstand: Landesverweisung (Art. 66a Abs. 2 StGB)
Vorinstanz: Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer (Urteil vom 9. Oktober 2024, SK 23 255)
Parteien: * Beschwerdeführer: A.__ (vertreten durch Rechtsanwalt) * Beschwerdegegner: Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern
Einleitung: Das Bundesgericht hatte über eine Beschwerde gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Bern zu entscheiden, mit dem die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen qualifizierter und einfacher Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) bestätigt, die Strafe erhöht und insbesondere die Landesverweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz angeordnet wurde.
Hintergrund (Massgebende Sachverhaltsfeststellungen des Obergerichts): Der Beschwerdeführer, ein tunesischer Staatsangehöriger, wurde wegen gewerbsmässigen Drogenhandels (Marihuana) über einen Zeitraum von 860 Tagen (Juli 2019 bis November 2021) verurteilt. Er hatte dabei mindestens 24,77 kg Marihuana verkauft und einen erheblichen Umsatz (352'972.50 CHF) sowie Gewinn (167'197.50 CHF) erzielt. Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer in enger Zusammenarbeit mit anderen Personen handelte und eine bestimmende Rolle als "Chef der Bande" innehatte. In erster Instanz wurde er zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt und für sieben Jahre des Landes verwiesen. Die Vorinstanz erhöhte die Strafe auf 34 Monate und 20 Tage (als Gesamtstrafe unter Einrechnung eines Strafrests) und bestätigte die Landesverweisung.
Rechtliche Grundlagen der Landesverweisung (Art. 66a StGB): * Grundsatz (Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB): Das Gesetz sieht grundsätzlich eine zwingende Landesverweisung vor, wenn ein Ausländer wegen bestimmter Delikte, wie einer qualifizierten Widerhandlung gegen das BetmG (hier Art. 19 Abs. 2 BetmG), verurteilt wird. Die Dauer der Landesverweisung beträgt in solchen Fällen fünf bis fünfzehn Jahre, unabhängig vom Strafmass. Da der Beschwerdeführer als tunesischer Staatsangehöriger wegen einer qualifizierten BetmG-Widerhandlung verurteilt wurde, erfüllte er grundsätzlich die Voraussetzungen für eine Landesverweisung. * Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Der Richter kann ausnahmsweise auf eine Landesverweisung verzichten, wenn diese für den Ausländer eine schwere persönliche Härte bedeuten würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Diese Klausel ist restriktiv anzuwenden und dient der Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV, Art. 8 EMRK). Bei der Beurteilung der Härte sind namentlich die Kriterien des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG, Art. 58a Abs. 1 AIG) und der dazugehörigen Verordnung (ZAV, Art. 31 Abs. 1 ZAV) sowie die bundesgerichtliche Rechtsprechung (insb. ATF 149 IV 231, 146 IV 105, 144 IV 332) zu berücksichtigen: Grad der Integration (rechtstreues Verhalten, Sprachkenntnisse, Teilnahme am Wirtschaftsleben etc.), familiäre Situation (Dauer der Beziehung, Kinder, deren Alter und Schulzeit), finanzielle Situation, Dauer des Aufenthalts, Gesundheitszustand, Wiedereingliederungsmöglichkeiten im Heimatland sowie die sozialen Wiedereingliederungsperspektiven des Verurteilten. Eine schwere persönliche Härte wird in der Regel angenommen, wenn die Landesverweisung einen gewichtigen Eingriff in das durch Art. 13 BV und Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben darstellt. * Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens): Ein Ausländer kann sich gegen eine Landesverweisung, die zur Trennung von seiner Familie führen würde, auf Art. 8 EMRK berufen, sofern er eine tatsächlich und gelebte, enge Beziehung zu einer Person mit einem dauerhaften Anwesenheitsrecht in der Schweiz unterhält. Geschützt sind primär die Beziehungen innerhalb der Kernfamilie (Ehegatten, Eltern und minderjährige Kinder im gemeinsamen Haushalt). Art. 8 EMRK ist nicht verletzt, wenn der Familie zugemutet werden kann, das Familienleben im Ausland zu führen. Andernfalls ist eine Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmen (ATF 144 I 91, 140 I 145). Das Kindeswohl (Art. 3 KRK) ist ein wichtiger Faktor, begründet aber kein direktes Recht auf Aufenthalt oder Verbleib in der Schweiz. * Gesundheitszustand: Ein schlechter Gesundheitszustand kann eine schwere persönliche Härte begründen oder im Rahmen der Interessenabwägung relevant sein (ATF 145 IV 455). Eine Landesverweisung verstösst nur in Ausnahmefällen gegen Art. 3 EMRK, wenn sie eine konkrete Gefahr einer ernsthaften, raschen und unumkehrbaren Verschlechterung des Gesundheitszustands wegen fehlender oder unzugänglicher Behandlung im Herkunftsland zur Folge hätte. Die Schwelle für eine solche Verletzung von Art. 3 EMRK ist sehr hoch (ATF 146 IV 297).
Beurteilung durch die Vorinstanz: Die Vorinstanz prüfte die Voraussetzungen der Härtefallklausel in zwei Schritten: 1. Schwere persönliche Härte: Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer seit 1998 (Alter 23) in der Schweiz lebte, verheiratet war (seit 2011) und zwei Kinder hatte (geb. 2011 und 2016; ein drittes Kind war unterwegs). Seine Ehefrau hatte eine Niederlassungsbewilligung (Permit C), die Tochter war Schweizerin, der Sohn hatte ebenfalls ein Permit C. Die Vorinstanz stellte jedoch fest, dass der Beschwerdeführer seit 2006 getrennt von seiner Familie lebte und erst kurz vor der Verurteilung (nach Haftentlassung) wieder mit ihnen zusammenzog. Die Familie besuchte ihn regelmässig in der Haft. Die Vorinstanz bejahte zwar das Vorliegen einer tatsächlich gelebten und engen Familienbeziehung, relativierte diese aber stark, da sie erst seit sehr kurzer Zeit bestand. Bezüglich des Gesundheitszustands (Magenkrebs 2018, 2019 in totaler Remission, chronisches Schmerzsyndrom) kam die Vorinstanz gestützt auf einen Bericht des Staatssekretariats für Migration (SEM) zum Schluss, dass die Behandlung in Tunesien möglich sei und keine Gefahr im Sinne von Art. 3 EMRK bestehe. Der Beschwerdeführer habe kein Recht auf gleichwertige medizinische Versorgung wie in der Schweiz. Die Integration des Beschwerdeführers in der Schweiz wurde als gering beurteilt: Er ist seit 2006 getrennt lebend, hat kaum gearbeitet (seit 10 Jahren nicht integriert im Berufsleben), seine Finanzen waren katastrophal (Familie auf Sozialhilfe angewiesen), er war in keine Vereine integriert und hatte kaum Kontakte ausserhalb seines Drogenmilieus. Er unterhielt aber weiterhin starke familiäre Ankerpunkte in Tunesien. Die Vorinstanz kam zum Schluss, dass die Landesverweisung wegen der Anwesenheit der Kernfamilie des Beschwerdeführers in der Schweiz eine schwere persönliche Härte darstellen würde, diese aber aufgrund der erst sehr kurzen Dauer des tatsächlichen Zusammenlebens stark relativiert sei. 2. Abwägung öffentliche vs. private Interessen: Bei dieser Abwägung betonte die Vorinstanz die hohe Schwere der Straftat: grosser Umfang des Drogenhandels (24,77 kg), erhebliche Umsätze und Gewinne, bestimmende Rolle als "Chef". Die Verurteilung erfolgte wegen qualifizierter BetmG-Widerhandlungen (gewerbsmässig und als Mitglied einer Bande), die eine zwingende Landesverweisung vorsehen. Die verhängte Freiheitsstrafe (34 Monate 20 Tage) liege weit über dem Schwellenwert von einem Jahr Freiheitsstrafe, der im Ausländerrecht grundsätzlich zum Widerruf einer Aufenthaltsbewilligung berechtigen würde (ATF 139 I 16). Besonders ins Gewicht fielen die Vorstrafen des Beschwerdeführers (drei einschlägige Verurteilungen seit 2013, u.a. zu Freiheitsstrafen) und seine Rückfälligkeit während des laufenden Verfahrens. Er setzte seine kriminelle Tätigkeit fort, selbst nachdem er von den Behörden auf die drohende Landesverweisung hingewiesen wurde und während er gemeinnützige Arbeit leistete. Dies zeige eine krasse Missachtung der Schweizer Rechtsordnung und eine hohe Rückfallgefahr. Die fehlende Integration in der Schweiz, die Ankerpunkte in Tunesien und die Möglichkeit der Wiedereingliederung dort wurden ebenfalls berücksichtigt. Bezüglich der Familie wurde erwogen, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers (mit Permit C) ihm mit den Kindern nach Tunesien folgen könne, sodass das Familienleben dort fortgeführt werden könne. Die Ehefrau habe bei der Zeugung des dritten Kindes vom unsicheren Status des Beschwerdeführers und der drohenden Landesverweisung gewusst. Da die Ehefrau die gemeinsame elterliche Sorge hatte und nicht der Beschwerdeführer die alleinige Obhut, führe dessen Wegweisung nicht ipso facto zum Wegzug der Kinder. Die Landesverweisung gerate daher nicht in Konflikt mit den Rechten der Kinder aus ihrer Schweizer Staatsangehörigkeit bzw. dem Permit C. Das Kindeswohl sei nicht in einer mit der KRK unvereinbaren Weise betroffen. Die Vorinstanz schloss, dass die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung des Beschwerdeführers die privaten Interessen am Verbleib in der Schweiz klar überwiegen und ordnete die Landesverweisung an.
Prüfung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht prüfte die Argumentation der Vorinstanz.
Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Angesichts der Schwere der Taten, der Vorstrafen, der Rückfallgefahr, der mangelnden Integration in der Schweiz sowie der Möglichkeiten der Wiedereingliederung in Tunesien und der Fortführung des Familienlebens im Ausland kam das Bundesgericht zum Ergebnis, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt hat, indem sie die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung höher gewichtete als die privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz und dessen Landesverweisung anordnete. Die Dauer der Landesverweisung (sieben Jahre) wurde vom Beschwerdeführer nicht beanstandet und erschien dem Gericht im Rahmen des gesetzlichen Rahmens und der Umstände nicht unverhältnismässig.
Entscheid: Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit sie zulässig war. Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt. Der Antrag auf aufschiebende Wirkung wurde als gegenstandslos erklärt, da die Beschwerde gegen eine Landesverweisung in Strafsachen ohnehin von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung hat.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte: Das Bundesgericht hat die Landesverweisung eines tunesischen Staatsangehörigen wegen qualifizierten Drogenhandels bestätigt. Es befand, dass trotz Vorliegens einer schweren persönlichen Härte (präsentierte Kernfamilie in der Schweiz) die öffentlichen Interessen an der Wegweisung aufgrund der hohen Schwere der Straftaten, der einschlägigen Vorstrafen, der Rückfälligkeit während des Verfahrens und der mangelnden Integration des Täters in der Schweiz klar überwiegen. Die Möglichkeit, das Familienleben im Herkunftsland (Tunesien) fortzusetzen, sowie die Tatsache, dass der Täter nicht die alleinige Obhut über seine Kinder hatte und deren Wegzug nicht zwingend war, führten dazu, dass die Härtefallklausel des Art. 66a Abs. 2 StGB nicht zur Anwendung gelangte. Neue Beweismittel zum Gesundheitszustand wurden als unzulässig verworfen.