Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1169/2023 vom 7. Mai 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_1169/2023 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 7. Mai 2025:

1. Einleitung und Gegenstand

Das Urteil des Bundesgerichts (I. Strafrechtliche Abteilung) vom 7. Mai 2025 mit der Geschäftsnummer 6B_1169/2023 betrifft eine Beschwerde in Strafsachen gegen einen Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen. Gegenstand des Verfahrens sind die Vorwürfe der fahrlässigen einfachen und fahrlässigen schweren Körperverletzung im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, wobei die zentralen rechtlichen Rügen des Beschwerdeführers (A.__, die Lenkerin des beteiligten Fahrzeugs) eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie des Anklagegrundsatzes betreffen. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob das vorinstanzliche Urteil auf und wies die Sache zur neuen Beurteilung an das Kantonsgericht zurück.

2. Sachverhalt

Am 17. Dezember 2014 gegen 17.00 Uhr ereignete sich in V._ ein Verkehrsunfall. Die Beschwerdeführerin fuhr mit ihrem Personenwagen auf der U.__strasse, als sie zwei die Strasse überquerende Fussgänger, B._ und C._, erfasste. B._ wurde frontal getroffen und erlitt schwere Verletzungen (u.a. Schädelbruch, Kieferbruch, Hirnschädigungen), die zu einer vollen IV-Rente führten. C.__ wurde vom Seitenspiegel gestreift und erlitt weniger gravierende, folgenlos ausgeheilte Verletzungen. Der Unfall ereignete sich am Ende des Bahnhofgeländes.

3. Prozessgeschichte

  • Erste Instanz (Kreisgericht): Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen fahrlässiger einfacher und schwerer Körperverletzung (bedingte Geldstrafe).
  • Zweite Instanz (erstes Kantonsgericht): Freispruch der Beschwerdeführerin in Gutheissung ihrer Berufung.
  • Bundesgericht (erstes Rückweisungsverfahren, Urteil 6B_305/2020, 6B_321/2020 vom 1. Oktober 2020): Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde der Privatklägerin (B.__) mangels Legitimation nicht ein. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde jedoch gutgeheissen. Das Bundesgericht hob den Freispruch des ersten Kantonsgerichts auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung zurück. Dabei beanstandete das Bundesgericht, dass die Vorinstanz vom ersten verkehrstechnischen Gutachten abgewichen sei, ohne darzulegen, weshalb dieses nicht schlüssig sei, und dass sie keine ergänzenden Beweise zur Klärung ihrer Zweifel erhoben habe. Das Bundesgericht forderte eine neue Beweiswürdigung durch die Vorinstanz. Entgegen der Behauptung der Beschwerdegegnerin 2 im aktuellen Verfahren, hatte das Bundesgericht im Rückweisungsverfahren nicht entschieden, dass vom ersten Gutachten nicht abgewichen werden dürfe; es hat vielmehr eine unbegründete Abweichung gerügt und zur Erhebung ergänzender Beweise angehalten.
  • Zweite Instanz (zweites Kantonsgericht): Das Kantonsgericht holte ein neues verkehrstechnisches Gutachten ein. Gestützt darauf sprach es die Beschwerdeführerin erneut schuldig (bedingte Geldstrafe). Das Kantonsgericht begründete die Einholung eines neuen Gutachtens damit, dass das Erstgutachten die tatsächlichen Sichtverhältnisse am Unfallort (Starkregen, Nacht, störende Lichtreflexionen) nur ungenügend berücksichtigt habe, während es primär von einer rein geometrischen Sichtbarkeit ausgegangen sei. Das Erstgutachten sei deshalb als nicht schlüssig bzw. unvollständig gemäss Art. 189 lit. a StPO erachtet worden. Eine Ergänzung durch den gleichen Gutachter sei angesichts seiner vorherigen rudimentären Beantwortung nicht angezeigt gewesen.

4. Rügen der Beschwerdeführerin vor Bundesgericht

Die Beschwerdeführerin beantragte ihren Freispruch und machte im Wesentlichen zwei Hauptpunkte geltend:

  • Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und willkürliche Beweiswürdigung (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 3 Abs. 2 lit. c, Art. 107 StPO, Art. 9 BV): Die Vorinstanz habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie sich in ihrem Urteil nicht mit den von der Beschwerdeführerin im Berufungsverfahren ausführlich vorgebrachten Einwänden gegen das neue verkehrstechnische Gutachten auseinandergesetzt habe. Sie habe lediglich festgehalten, dass keine Veranlassung bestehe, an den Berechnungen des Gutachtens zu zweifeln, da diese schlüssig und nachvollziehbar seien, ohne ihre spezifischen Kritikpunkte zu erwähnen oder zu widerlegen. Dies habe ihr die Möglichkeit genommen, die Argumentation der Vorinstanz nachzuvollziehen und den Entscheid effektiv anzufechten. Die Beschwerdeführerin hielt an ihrer vorinstanzlichen Kritik fest, wonach das Gutachten auf Annahmen basiere (Geschwindigkeit des Fahrzeugs/Fussgänger, Kollisionsbereich), statistische Werte unzulässig angewendet (Kollisionsgeschwindigkeit basierend auf unpassenden Modellen) und entscheidende Störfaktoren (Regen, beleuchtetes Postauto) sowie die unzureichende Anwendbarkeit des Erkennbarkeitsdiagramms (Anwendung auf unbeleuchtete Landstrasse ohne Störquellen vs. Unfallort mit Störquellen) ignoriert oder ungenügend berücksichtigt habe. Daher könne das Gutachten keinen rechtsgenügenden Beweis erbringen.
  • Verletzung des Anklagegrundsatzes (Art. 9, 325 StPO, Art. 29 Abs. 2, 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1, 3 lit. a, b EMRK, Art. 350 Abs. 1 StPO): Die Verurteilung basiere auf einem Sachverhalt, der über die Anklageschrift hinausgehe.
    • Die Hauptbegründung der Vorinstanz gehe von einer Geschwindigkeit des Unfallfahrzeugs von maximal 40 km/h aus, während die Anklageschrift 41 bis 49 km/h nenne.
    • Die Alternativbegründung der Vorinstanz, wonach die Beschwerdeführerin mit einer nicht den am Unfallabend herrschenden Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit gefahren sei, sei nicht Gegenstand der Anklageschrift gewesen. Dort sei ihr primär mangelnde Aufmerksamkeit und zu spätes Bremsen vorgeworfen worden. Eine Verletzung von Art. 32 SVG sei nicht erwähnt.

5. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Rügen der Beschwerdeführerin im Einzelnen:

  • Zum Anspruch auf rechtliches Gehör (E. 1.4, 1.5):

    • Das Bundesgericht hielt fest, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör u.a. die Pflicht der Behörde zur Begründung ihres Entscheids impliziert, wobei auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte einzugehen ist (E. 1.4.1).
    • Das Gericht kann zwar von einem Gutachten abweichen, muss dies aber begründen. Das Abstellen auf eine nicht schlüssige Expertise kann willkürlich sein (E. 1.4.3).
    • Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerin im zweiten Berufungsverfahren detaillierte Einwände gegen das neue verkehrstechnische Gutachten vorgebracht hatte, die für die Beurteilung des Anklagevorwurfs massgebend waren (E. 1.5.1).
    • Die Vorinstanz erwähnte zwar die Stellungnahme der Beschwerdeführerin, ging aber inhaltlich nicht auf die darin erhobene Kritik ein. Sie beschränkte sich darauf, das Gutachten als schlüssig und nachvollziehbar zu bezeichnen und darauf abzustellen.
    • Dies verletzt die Begründungspflicht und den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör. Indem die Vorinstanz die Kritik nicht behandelte, war es der Beschwerdeführerin (und dem Bundesgericht) nicht möglich, die Stichhaltigkeit der vorinstanzlichen Beweiswürdigung zu überprüfen (E. 1.5.4). Das Bundesgericht kann die Einwände nicht anstelle der Vorinstanz prüfen.
    • Diese Verletzung des rechtlichen Gehörs führt zur Aufhebung des Entscheids und zur Rückweisung der Sache an die Vorinstanz (E. 1.5.4, 1.5.5).
  • Zum Anklagegrundsatz (E. 2):

    • Das Bundesgericht erläuterte den Anklagegrundsatz (Umgrenzungs- und Informationsfunktion) und die Anforderungen an die Sachverhaltsumschreibung bei Fahrlässigkeitsdelikten, insbesondere die Notwendigkeit, die pflichtwidrigen Umstände sowie Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit darzulegen (E. 2.2). Das Gericht ist an den angeklagten Sachverhalt gebunden (Immutabilitätsprinzip).
    • Hinsichtlich der Hauptbegründung (40 km/h vs 41-49 km/h): Das Bundesgericht liess offen, ob die geringfügige Abweichung bei der angenommenen Geschwindigkeit eine Verletzung darstellt, da die Sache ohnehin zurückgewiesen wird und die Vorinstanz dies im neuen Verfahren prüfen kann (E. 2.4).
    • Hinsichtlich der Alternativbegründung (Geschwindigkeit nicht den Sichtverhältnissen angepasst): Die Anklageschrift warf der Beschwerdeführerin vor, mangels genügender Aufmerksamkeit die Fussgänger nicht bemerkt und daher nicht bzw. zu spät gebremst zu haben. Sie erwähnte zwar Vorsichtspflichten in Bahnhofsnähe und bei Haltestellen, wo ggf. die Geschwindigkeit herabzusetzen sei, dies aber im Kontext der Aufmerksamkeit und der Berücksichtigung von unvorsichtigen Personen. Die Anklage stützte den Vorwurf nicht darauf, dass die Geschwindigkeit spezifisch den am Unfallabend herrschenden Sicht- und Witterungsverhältnissen (Starkregen, Nacht, störende Reflexionen) nicht angepasst gewesen sei. Diese konkreten Umstände wurden in der Anklageschrift als Grundlage für eine Geschwindigkeitsüberschreitung nicht genannt. Der Umstand, dass Art. 32 Abs. 1 SVG (Anpassung der Geschwindigkeit an Verhältnisse) im Strafbefehl nicht als anwendbare Bestimmung aufgeführt war, stützte diese Auslegung.
    • Indem die Vorinstanz in ihrer Alternativbegründung die Verurteilung darauf stützte, die Beschwerdeführerin habe mit einer den Sichtverhältnissen nicht angepassten, zu hohen Geschwindigkeit gehandelt, ging sie über den in der Anklageschrift umschriebenen Sachverhalt hinaus. Dies verletzt den Anklagegrundsatz und Art. 350 Abs. 1 StPO. Die entsprechende Erwägung des Bundesgerichts im ersten Rückweisungsurteil, dass der Anklagevorwurf über die blosse räumliche Vermeidbarkeit hinausgehe, wurde vom Bundesgericht dahingehend präzisiert, dass sie lediglich aufzeigen sollte, dass nicht zwingend ein Freispruch erfolgen müsse, wenn die Kollision räumlich nicht vermeidbar war – sie erweiterte aber nicht den Anklagesachverhalt um einen neuen Vorwurfsgrund (E. 2.5).

6. Fazit und Anordnung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass das vorinstanzliche Urteil sowohl den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör (unzureichende Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen das Gutachten) als auch den Anklagegrundsatz (Verurteilung auf Basis eines nicht angeklagten Sachverhalts bezüglich der Geschwindigkeit in Abhängigkeit der Sichtverhältnisse) verletzt.

Daher hiess das Bundesgericht die Beschwerde gut, hob das Urteil des Kantonsgerichts auf und wies die Sache zur neuen Beurteilung an das Kantonsgericht zurück. Die Vorinstanz hat sich im neuen Verfahren mit den Einwänden der Beschwerdeführerin gegen das Gutachten auseinanderzusetzen, die Beweise neu zu würdigen und dabei den Anklagegrundsatz, wie vom Bundesgericht ausgelegt, zu beachten.

Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens wurden den unterliegenden Beschwerdegegnerinnen auferlegt, wobei dem Kanton keine Kosten auferlegt werden. Die Beschwerdegegnerinnen wurden ausserdem verpflichtet, der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu zahlen.

7. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hat das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen wegen zweier wesentlicher Rechtsfehler aufgehoben: 1. Verletzung des rechtlichen Gehörs: Das Kantonsgericht hat die detaillierten und substanziierten Einwände der Beschwerdeführerin gegen das entscheidwesentliche verkehrstechnische Gutachten nicht inhaltlich geprüft und begründet, weshalb es das Gutachten dennoch als schlüssig erachtete. Eine blosse pauschale Feststellung der Schlüssigkeit genügte der Begründungspflicht nicht. 2. Verletzung des Anklagegrundsatzes: Das Kantonsgericht stützte seinen Schuldspruch eventualiter auf den Vorwurf, die Beschwerdeführerin sei mit einer den Sichtverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren. Dieser spezifische Fahrlässigkeitsvorwurf (Geschwindigkeit vs. Sichtverhältnisse wie Regen, Dunkelheit, Störlicht) war in der Anklageschrift, die sich primär auf mangelnde Aufmerksamkeit und zu spätes Bremsen fokussierte, nicht in hinreichender Form umschrieben.

Die Sache wurde zur neuen Beurteilung an das Kantonsgericht zurückgewiesen, das die Beweise, insbesondere das Gutachten, unter Beachtung des rechtlichen Gehörs und des Anklagegrundsatzes neu würdigen muss.