Zusammenfassung von BGer-Urteil 4A_544/2024 vom 20. Mai 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts 4A_544/2024 vom 20. Mai 2025:

1. Einleitung

Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 4A_544/2024 vom 20. Mai 2025 befasst sich mit einer Zivilrechtsbeschwerde gegen einen Schiedsspruch des Tribunal Arbitral du Sport (TAS/CAS) vom 9. September 2024. Gegenstand des Verfahrens war ein internationaler Sportarbitragefall im Biathlon, der eine angebliche Verletzung der Anti-Doping-Bestimmungen durch eine ehemalige russische Biathletin betraf. Das Bundesgericht hatte zu prüfen, ob die Anfechtungsgründe gemäss Art. 190 Abs. 2 des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) erfüllt waren.

2. Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin, eine ehemalige russische Biathletin von internationalem Rang, beendete ihre Karriere 2017. Gegenstand des Verfahrens war eine von der Union Internationale de Biathlon (IBU) am 16. September 2018 erhobene Anklage wegen Dopings. Diese Anklage stützte sich massgeblich auf Daten aus dem "Laboratory Information Management System" (LIMS) des Moskauer Anti-Doping-Labors, die von der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA/AMA) in verschiedenen Versionen (LIMS 2015 und LIMS 2019) sichergestellt worden waren. Die IBU behauptete, die LIMS 2015-Daten zeigten einen positiven Befund (Adverse Analytical Finding - AAF) für Ostarin in einer von der Athletin am 22. März 2013 abgegebenen Urinprobe, obwohl dieser Befund im WADA-System ADAMS fälschlicherweise als negativ gemeldet wurde.

Die Disziplinarkommission der IBU befand die Athletin am 11. Februar 2020 für schuldig, eine Anti-Doping-Regel verletzt zu haben, verhängte eine zweijährige Sperre und annullierte alle ihre Wettkampfergebnisse ab dem 22. März 2013 bis zu ihrem Rücktritt, einschliesslich Medaillen und Preise.

Die Athletin focht diese Entscheidung beim TAS/CAS an. Das TAS-Panel wies den Rekurs mit Schiedsspruch vom 9. September 2024 ab. Es stellte fest, dass die LIMS 2015-Daten bezüglich der fraglichen Probe authentisch seien, während die LIMS 2019-Daten manipuliert worden seien, um positive Befunde zu vertuschen. Gestützt auf die LIMS-Daten, Expertenanalysen und den Kontext eines organisierten russischen Dopingprogramms kam das Panel zum Schluss, dass die Athletin eine verbotene Substanz verwendet hatte.

3. Einordnung der Beschwerde und Kognition des Bundesgerichts

Die gegen diesen Schiedsspruch erhobene Zivilrechtsbeschwerde unterliegt den Bestimmungen von Art. 190 ff. IPRG über die internationale Schiedsgerichtsbarkeit (Art. 77 Abs. 1 lit. a BGG), da der Sitz des TAS in Lausanne (Schweiz) liegt und keine der Parteien ihren Wohn- oder Geschäftssitz in der Schweiz hatte (Art. 176 Abs. 1 IPRG).

Das Bundesgericht prüft Schiedssprüche im internationalen Schiedsverfahren nur auf die in Art. 190 Abs. 2 IPRG abschliessend aufgeführten Gründe hin. Seine Kognition ist stark eingeschränkt; es entscheidet nicht als Appellationsinstanz mit voller Überprüfungsbefugnis. Gemäss Art. 77 Abs. 3 BGG gilt das Rügeprinzip: Die beschwerdeführende Partei muss einen der Anfechtungsgründe nennen und detailliert darlegen, inwiefern der Schiedsspruch diesen Grund verletzt. Die Begründungsanforderungen sind erhöht. Appellatorische Kritik, die darauf abzielt, die Beweiswürdigung oder die Sachverhaltsfeststellungen des Schiedsgerichts zu ersetzen, ist unzulässig (vgl. E. 4.1).

Das Bundesgericht ist grundsätzlich an den Sachverhalt gebunden, wie er im angefochtenen Schiedsspruch festgestellt wurde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine Berichtigung oder Ergänzung des Sachverhalts von Amtes wegen ist ausgeschlossen (Art. 77 Abs. 2 BGG, der Art. 105 Abs. 2 BGG ausschliesst). Ausnahmen gelten nur, wenn gegen die Sachverhaltsfeststellung selbst ein Anfechtungsgrund gemäss Art. 190 Abs. 2 IPRG vorgebracht wird.

4. Prüfung der Rügen der Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin brachte im Wesentlichen zwei Anfechtungsgründe vor: die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs (Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG) und die Verletzung des materiellen Ordre public (Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG), insbesondere der Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

4.1. Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG)

  • Rüge der Beschwerdeführerin: Die Beschwerdeführerin machte geltend, das TAS habe ihr rechtliches Gehör verletzt, indem es die Unzuverlässigkeit der LIMS-Daten ignoriert habe. Sie stützte sich dabei auf eine Statistik der IBU vom 24. August 2021, wonach über 95 % der gemäss LIMS-Daten verdächtigen Proben bei einer erneuten Analyse negativ ausgefallen seien. Zudem habe das TAS ihre Argumente zur mangelnden Regeltreue des Moskauer Labors bei der Analyse ihrer Probe unberücksichtigt gelassen.
  • Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht stellte klar, dass die Rüge in Wahrheit eine unzulässige Kritik an der Beweiswürdigung des TAS darstellt. Das rechtliche Gehör verpflichtet das Schiedsgericht lediglich, relevante Tatsachen, Beweismittel und Argumente zu prüfen und zu berücksichtigen, nicht aber, jedes Argument explizit zu widerlegen oder als entscheidend zu erachten. Eine Verletzung liegt nur vor, wenn ein relevanter Punkt aufgrund von Versehen oder Missverständnis unberücksichtigt bleibt. Das Bundesgericht wies darauf hin, dass das TAS die von der Beschwerdeführerin zitierte Korrespondenz vom 24. August 2021 ausdrücklich erwähnt (E. 5.3, Hinweis auf Ziff. 56-57 des Schiedsspruchs). Darüber hinaus habe das TAS-Panel auf mehr als zehn Seiten die Zuverlässigkeit der LIMS-Daten, das Funktionieren des Moskauer Labors und die behaupteten Mängel bei der Analyse der strittigen Probe detailliert geprüft. Am Ende dieser Prüfung sei das Panel zum Schluss gekommen, dass die Daten der strittigen Probe authentisch und zuverlässig seien und die Verwendung einer verbotenen Substanz belegten. Das Bundesgericht stellte fest, dass das TAS die Argumente der Beschwerdeführerin zur Unzuverlässigkeit der Daten offensichtlich als nicht entscheidend erachtete. Dies stelle keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.
  • Ergebnis: Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs wurde als unbegründet (soweit überhaupt zulässig als Angriff auf die Beweiswürdigung) abgewiesen.

4.2. Verletzung des materiellen Ordre public (Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG), insbes. Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK)

  • Rüge der Beschwerdeführerin: Die Beschwerdeführerin machte geltend, der Schiedsspruch verletze den materiellen Ordre public, insbesondere die Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Abs. 2 EMRK, da er sich auf unzuverlässige Beweise stütze und der Zweifel ihr hätte zugutekommen müssen (in dubio pro reo). Sie argumentierte unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Semenya gegen die Schweiz, dass die EMRK-Garantien direkt anwendbar seien und das Bundesgericht eine volle Kognition bezüglich EMRK-Verletzungen habe.
  • Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts:

    • Materieller Ordre public: Das Bundesgericht wiederholte seine ständige Rechtsprechung (z.B. BGE 144 III 120 E. 5.1), wonach der materielle Ordre public nur verletzt ist, wenn der Schiedsspruch grundlegende Rechtsprinzipien des materiellen Rechts so verletzt, dass er mit der massgebenden Rechtsordnung und dem Wertesystem unvereinbar ist. Es kommt auf das Ergebnis des Schiedsspruchs an, nicht auf eine blosse unrichtige Rechtsanwendung oder fehlerhafte Sachverhaltsfeststellung.
    • Direkte Anrufung der EMRK: Das Bundesgericht bekräftigte seine ebenfalls ständige Rechtsprechung (z.B. BGE 147 III 586 E. 5.2.1; 146 III 358 E. 4.1), wonach die EMRK-Garantien in einer Zivilrechtsbeschwerde gegen einen internationalen Schiedsspruch nicht direkt angerufen werden können. EMRK-Grundsätze können allenfalls zur Konkretisierung der in Art. 190 Abs. 2 IPRG genannten Anfechtungsgründe herangezogen werden, erweitern aber nicht die Kognition des Bundesgerichts.
    • EGMR Semenya-Urteil: Das Bundesgericht wies das Argument der Beschwerdeführerin, das Semenya-Urteil des EGMR erfordere eine volle Kognition bezüglich EMRK-Garantien, zurück. Es stellte fest, dass dieses Urteil zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht rechtskräftig war, da es noch vor der Grossen Kammer des EGMR hängig war. Diese Tatsache wurde bereits in einem früheren Urteil (BGE 4A_488/2023 vom 23. Januar 2024 E. 3) berücksichtigt und führte nicht zu einer Abkehr von der bisherigen Praxis.
    • Unschuldsvermutung und in dubio pro reo im Sportrecht: Das Bundesgericht stellte unter Berufung auf seine gefestigte Rechtsprechung (z.B. BGE 4A_10/2022 E. 5.4.2; 4A_462/2019 E. 7.1; und insbesondere den kürzlich ergangenen Entscheid 4A_474/2024 E. 6) fest, dass die Unschuldsvermutung und der Grundsatz in dubio pro reo, wie sie von der EMRK garantiert werden, in Disziplinarverfahren privatrechtlicher Organisationen wie Sportverbänden nicht automatisch anwendbar sind. Das Bundesgericht begründete dies damit, dass private Verbände im Gegensatz zum Staat nicht über vergleichbar weitgehende Untersuchungs- und Zwangsbefugnisse verfügen. Eine strikte Anwendung dieser Prinzipien im Anti-Doping-Kampf könnte dessen Effektivität beeinträchtigen.
    • Kritik an der Beweiswürdigung: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerin auch unter dem Mantel der Ordre public-Rüge unzulässigerweise die Beweiswürdigung des TAS angriff. Sie versuchte, die Schiedsgerichtsverhandlung zu "wiederholen" und ihren Rechtsstandpunkt erneut darzulegen, der vom TAS nicht geteilt wurde.
    • Schlussfolgerung zur Ordre public-Rüge: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass das Ergebnis des Schiedsspruchs nicht im Widerspruch zum schweizerischen materiellen Ordre public steht, d.h. zu den grundlegenden und weitgehend anerkannten Werten, die nach schweizerischer Auffassung die Basis jeder Rechtsordnung bilden sollten.
  • Ergebnis: Die Rüge der Verletzung des materiellen Ordre public wurde abgewiesen.

5. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die von der Beschwerdeführerin erhobenen Rügen, soweit sie zulässig waren, unbegründet waren. Die Zivilrechtsbeschwerde wurde daher abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte.

6. Wesentliche Punkte im Überblick

  • Das Bundesgericht bestätigte den TAS-Schiedsspruch, der die Biathletin aufgrund von LIMS-Daten und Expertenanalysen im Kontext des organisierten russischen Dopingprogramms des Dopings für schuldig befand.
  • Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen angeblicher Nichtberücksichtigung von Argumenten zur Unzuverlässigkeit der LIMS-Daten wurde abgewiesen. Das Bundesgericht sah darin eine unzulässige Kritik an der Beweiswürdigung und stellte fest, dass das TAS die Zuverlässigkeit der Daten und die Funktionsweise des Labors sehr wohl geprüft hatte.
  • Das Bundesgericht bekräftigte seine ständige Rechtsprechung, wonach die EMRK-Garantien (insbesondere Art. 6 Abs. 2 EMRK - Unschuldsvermutung) in einer Beschwerde gegen einen internationalen Schiedsspruch nicht direkt angerufen werden können.
  • Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin stellte das Bundesgericht fest, dass das Semenya-Urteil des EGMR die bundesgerichtliche Praxis nicht ändert, da es noch nicht rechtskräftig war und die direkte Anrufung der EMRK im Rahmen von Art. 190 IPRG nicht zulässt.
  • Das Bundesgericht bestätigte seine ständige Rechtsprechung (inkl. des neuen Urteils 4A_474/2024), dass die Unschuldsvermutung und der Grundsatz in dubio pro reo, wie sie von der EMRK garantiert werden, in Disziplinarverfahren privatrechtlicher Sportverbände nicht automatisch anwendbar sind. Dies wurde mit dem unterschiedlichen Charakter dieser Verfahren im Vergleich zu staatlichen Verfahren begründet.
  • Die Rüge der Verletzung des materiellen Ordre public wurde abgewiesen. Eine solche Verletzung lag nach Ansicht des Bundesgerichts nicht vor, da das Ergebnis des Schiedsspruchs nicht im Widerspruch zu fundamentalen Rechtswerten steht; die vorgebrachte Kritik zielte erneut unzulässig auf die Beweiswürdigung ab.

Das Urteil unterstreicht die enge Kognition des Bundesgerichts in internationalen Schiedsverfahren und bekräftigt insbesondere die etablierte schweizerische Rechtsprechung zur Anwendbarkeit bzw. Nicht-Anwendbarkeit von bestimmten EMRK-Garantien (wie der Unschuldsvermutung) und des Prinzips in dubio pro reo in sportrechtlichen Disziplinarverfahren privater Verbände.