Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_896/2024 vom 19. Mai 2025

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Gerne, hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_896/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts:

Bundesgericht, Urteil 6B_896/2024 vom 19. Mai 2025

  • Gericht: Schweizerisches Bundesgericht, I. Strafrechtliche Abteilung
  • Datum: 19. Mai 2025
  • Verfahrensbeteiligte: A._ (Beschwerdeführer) gegen Ministère public central du canton de Vaud und B.B._ (Beschwerdegegnerinnen)
  • Gegenstand: Sexuelle Handlungen an einer urteilsunfähigen oder widerstandsunfähigen Person (Art. 191 aStGB); Unschuldsvermutung; lebenslanges Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen (Art. 67 StGB); Landesverweisung (Art. 66a StGB).
  • Vorinstanz: Cour d'appel pénale du Tribunal cantonal du canton de Vaud, Urteil vom 27. Juni 2024
  • Entscheidung des Bundesgerichts: Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

1. Sachverhalt (massgebend für die rechtliche Würdigung):

Der Beschwerdeführer A.__, ein indischer Staatsangehöriger, wurde von der Vorinstanz wegen sexueller Handlungen an einer urteilsunfähigen oder widerstandsunfähigen Person gemäss Art. 191 des (alten) Strafgesetzbuches (aStGB) verurteilt. Dem Schuldspruch lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Am 29. Mai 2021 gab der Beschwerdeführer, der als Masseur in einem Hotel tätig war, der damals 16-jährigen Geschädigten B.B.__ eine Ganzkörper-Ayurveda-Massage. Dabei nutzte er nach den Feststellungen der Vorinstanz seine Stellung aus, um die Brüste, das Gesäss und die Genitalien der Geschädigten zu massieren, ihr einen Finger in den Anus und danach zwei Finger in die Vagina einzuführen. Die Geschädigte meldete die Vorfälle unmittelbar danach der Hotelrezeption, zeigte sich aufgelöst und weinte bis zum Eintreffen der Polizei. Es wurden biologische Proben entnommen, die jedoch keine verwertbaren Mengen an männlicher DNA ergaben.

Der Beschwerdeführer bestritt die Vorfälle. Er machte geltend, die Massage sei gemäss ayurvedischem Protokoll erfolgt, welches keine derartigen Berührungen vorsehe. Er führte an, die fehlenden DNA-Spuren sprächen gegen die Darstellung der Geschädigten und dass die Reaktion der Geschädigten allenfalls durch die Reaktivierung eines älteren Traumas bedingt gewesen sein könnte.

Die Vorinstanz bestätigte das erstinstanzliche Urteil, welches den Beschwerdeführer zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilte, eine Landesverweisung von acht Jahren sowie ein lebenslanges Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen aussprach und eine Genugtuung zusprach.

2. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:

Der Beschwerdeführer focht das Urteil der Vorinstanz vor Bundesgericht an und rügte im Wesentlichen eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des Grundsatzes in dubio pro reo sowie Rechtsverletzungen bezüglich des Tätigkeitsverbots und der Landesverweisung.

2.1. Sachverhaltsfeststellung und in dubio pro reo (Rz. 1):

  • Grundsatz: Das Bundesgericht überprüft die Sachverhaltsfeststellung im Berufungsverfahren nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür (Art. 9 BV) und der Verletzung von Grundrechten (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG). Der Grundsatz in dubio pro reo (Art. 10 Abs. 3 StPO, Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Abs. 2 EMRK) hat in Bezug auf die Beweiswürdigung und Sachverhaltsfeststellung keine über die Willkürprüfung hinausgehende Bedeutung (Rz. 1.1). Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG).
  • Würdigung der Geschädigten-Aussage: Aussagen des Opfers sind Beweismittel, die vom Gericht frei zu würdigen sind (Rz. 1.1.1). Konstellationen von "Aussage gegen Aussage", in denen sich die Aussage des Opfers und die bestreitende Aussage des Beschuldigten gegenüberstehen, führen nicht zwingend zu einem Freispruch gestützt auf in dubio pro reo. Die endgültige Würdigung liegt beim Sachgericht.
  • Würdigung von Indizien: Stützt sich die kantonale Behörde auf ein Bündel konvergierender Elemente oder Indizien, ist es nicht ausreichend, wenn eines oder mehrere davon isoliert betrachtet nicht überzeugen. Die Beweiswürdigung ist als Ganzes zu prüfen (Rz. 1.1.2).
  • Anwendung im vorliegenden Fall: Das Bundesgericht schützte die vorinstanzliche Beweiswürdigung, die sich massgeblich auf die Aussage der Geschädigten stützte (Rz. 1.2). Die Vorinstanz habe deren Darstellung als vollständig, kohärent und nuanciert beurteilt. Insbesondere die sofortige, von sichtbarer Erschütterung begleitete Reaktion der Geschädigten sei als sehr aussagekräftig bewertet worden.
  • Gegenargumente des Beschwerdeführers: Die Einwände des Beschwerdeführers wurden vom Bundesgericht als unbegründet erachtet (Rz. 1.5).
    • Die Behauptung, das ayurvedische Massageprotokoll sehe die gerügten Berührungen nicht vor, sei irrelevant, da es nicht um die Frage gehe, ob der Beschwerdeführer versehentlich erogene Zonen berührt haben könnte, sondern um die von der Geschädigten beschriebenen Handlungen.
    • Die These, die Massage könnte ein älteres Trauma der Geschädigten reaktiviert haben, widerstehe der Prüfung der Fakten, insbesondere aufgrund der sofortigen und spezifischen Reaktion der Geschädigten auf die gerügten Handlungen. Ein vom Beschwerdeführer vorgelegtes psychologisches Gutachten, welches diese These stützte, wurde vom Bundesgericht als nicht willkürlich ignoriert betrachtet, da der Beschwerdeführer nicht darlegen konnte, wie die Erinnerung an eine frühere sexuelle Beziehung zu einer sofortigen Falschbeschuldigung bezüglich digitaler Penetrationen durch einen unbekannten Masseur hätte führen sollen.
    • Das Fehlen von DNA-Spuren in den Genital- und Analbereichen der Geschädigten wurde von der Vorinstanz als nicht beweiskräftig (nicht probant) beurteilt, was das Bundesgericht als willkärfrei bestätigte (Rz. 1.5). Bei einer Ganzkörpermassage sei das Fehlen signifikanter Mengen männlicher DNA auf elf entnommenen Proben insgesamt nicht entscheidend.
    • Die Aussage einer anderen Kundin (H.__), die ebenfalls ein analoges inadäquates Verhalten des Beschwerdeführers während einer Massage und ein ähnliches Gefühl des Unwohlseins beschrieben hatte (insbesondere Berührung der Intimbereiche, Aufforderung, die Beine zu spreizen, beängstigende Atmung), wurde von der Vorinstanz als stark beweiskräftig zur Stützung der Geschädigten-Aussage gewürdigt. Das Bundesgericht sah keinen Willkürgrund in dieser Würdigung. Die Einwände des Beschwerdeführers bezüglich der Pudenz der Zeugin oder seiner eigenen Atemwegserkrankung wurden als irrelevant oder unbehelflich erachtet.
  • Anhörungsrecht (Rz. 1.3):
    • Die Rüge fehlender Aktenreferenzen im vorinstanzlichen Urteil wurde als unsubstantiiert und unbegründet abgewiesen. Die Vorinstanz habe die relevanten Beweismittel (Aussagen, Gutachten, Zeugenaussagen) genannt und gewürdigt.
    • Die Rüge, die Vorinstanz habe willkürlich auf die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens zur Aussage der Geschädigten verzichtet, wurde ebenfalls abgewiesen. Die Vorinstanz hatte dies gestützt auf eine antizipierte Beweiswürdigung abgelehnt, da sie die Aussage der 16-Jährigen als präzise und kohärent erachtete und keine psychischen Vorerkrankungen (abgesehen von leichten Essstörungen) feststellte, die ein Gutachten zwingend erforderlich gemacht hätten. Der Beschwerdeführer legte nicht dar, inwiefern diese antizipierte Beweiswürdigung willkürlich sei.
    • Der Verzicht auf ein ergänzendes DNA-Gutachten wurde ebenfalls als nicht willkürlich erachtet, da das Fehlen verwertbarer Spuren bereits als nicht entscheidend gewürdigt wurde.

Fazit zur Sachverhaltsfeststellung: Das Bundesgericht bestätigte die Feststellungen der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfenen sexuellen Handlungen, einschliesslich der digitalen Penetrationen, begangen hat. Die Rügen der Willkür und Verletzung von in dubio pro reo wurden als unbegründet abgewiesen.

2.2. Strafbarkeit gemäss Art. 191 aStGB (Rz. 2):

Der Beschwerdeführer bestritt, eine Form der Penetration vorgenommen zu haben, und rügte damit indirekt eine fehlerhafte Anwendung von Art. 191 aStGB. Da diese Rüge jedoch ausschliesslich auf einer erneuten Anfechtung der Sachverhaltsfeststellung beruhte, die bereits abgewiesen wurde, ging das Bundesgericht auf die materielle Anwendung von Art. 191 aStGB nicht weiter ein.

2.3. Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen (Art. 67 Abs. 3 und 4bis StGB) (Rz. 2):

  • Grundsatz: Art. 67 Abs. 3 StGB sieht ein lebenslanges Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen vor für bestimmte schwere Sexualdelikte, darunter Art. 191 StGB, sofern nicht ein Fall von geringer Schwere gemäss Art. 67 Abs. 4bis StGB vorliegt.
  • Anwendung im vorliegenden Fall: Der Beschwerdeführer bestritt das Verbot mit Verweis darauf, dass kein Fall von Penetration vorliege und es sich um einen Fall von geringer Schwere (Art. 67 Abs. 4bis StGB) handle. Das Bundesgericht verneinte dies (Rz. 2). Da die Sachverhaltsfeststellung (einschliesslich Penetration) bestätigt wurde, liegt kein Fall von geringer Schwere im Sinne der Deliktskataloge für das obligatorische Tätigkeitsverbot (Art. 67 Abs. 3 i.V.m. 4bis StGB) vor. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausnahme gemäss Art. 67 Abs. 4bis Satz 1 StGB (keine Eignung zur Begehung von Sexualdelikten an Minderjährigen und keine Rückfallgefahr und andere Voraussetzungen) sind bei Delikten, die obligatorisch sind (wie Art. 191 StGB, wenn nicht gemäss Art. 67 Abs. 4bis lit. a als leichter Fall qualifiziert), ohnehin restriktiv auszulegen (vgl. ATF 149 IV 161 E. 2). Die Argumentation des Beschwerdeführers, er habe keine Neigung zu Minderjährigen und das Alter der Geschädigten nicht gekannt, ging fehl, da dies für die Qualifikation als "Fall von geringer Schwere" im Sinne der obligatorischen Verbote irrelevant ist (Art. 67 Abs. 4bis lit. a StGB).
  • Fazit zum Tätigkeitsverbot: Die Bestätigung des lebenslangen Tätigkeitsverbots mit Minderjährigen gemäss Art. 67 Abs. 3 StGB durch die Vorinstanz wurde als bundesrechtskonform erachtet.

2.4. Landesverweisung (Art. 66a StGB) (Rz. 3):

  • Grundsatz: Gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB verweist der Richter einen Ausländer aus der Schweiz, wenn er u.a. wegen sexueller Handlungen an einer urteilsunfähigen oder widerstandsunfähigen Person (Art. 191 StGB) verurteilt wird. Die Dauer beträgt fünf bis fünfzehn Jahre. Eine Landesverweisung ist obligatorisch, unabhängig von der Höhe der Strafe.
  • Härtefallklausel: Eine Ausnahme ist nur bei einem schweren persönlichen Härtefall (erste kumulative Bedingung) möglich, wenn das öffentliche Interesse an der Landesverweisung nicht das private Interesse des Ausländers am Verbleib in der Schweiz überwiegt (zweite kumulative Bedingung) (Art. 66a Abs. 2 StGB). Das Bundesgericht hat die Kriterien für die Prüfung des Härtefalls und die Interessenabwägung in ständiger Rechtsprechung präzisiert (Verweis auf ATF 146 IV 105 E. 3.4, 144 IV 332 E. 3.3) und dabei auch die Rechtsprechung des EGMR (Art. 8 EMRK) berücksichtigt (Verweis auf ATF 146 IV 105 E. 4.2, 147 I 268 E. 1.2.3).
  • Anwendung im vorliegenden Fall: Die Vorinstanz verneinte einen schweren persönlichen Härtefall und damit die Anwendbarkeit der Härtefallklausel. Sie stellte fest, dass der Beschwerdeführer als Expatriate im Alter von über 30 Jahren aus beruflichen Gründen in die Schweiz gekommen sei, kein Französisch beherrsche, keine Familie in der Schweiz habe und seine Beziehung zu seiner französischen Freundin, mit der er nicht zusammenlebt, keine ausreichenden sozialen oder familiären Bindungen darstelle (Rz. 3.2). Das Bundesgericht schützte diese Beurteilung (Rz. 3.3).
  • Anfechtung der vorinstanzlichen Beurteilung: Die Einwände des Beschwerdeführers gegen die Härtefallbeurteilung wurden als unzulässig (appellatorisch) oder unbehelflich abgewiesen (Rz. 3.3). Seine Behauptung, sein Französischniveau sei "funktionell", sei rein appellatorisch. Seine Rüge, Beweise für seine gute Integration seien ignoriert worden, sei unsubstantiiert, da er nicht präzisiere, welche Beweise gemeint seien. Die Behauptung, seine Freundin besitze die Schweizer Staatsbürgerschaft, sei mangels Beleg im Dossier unzulässig (Art. 99 Abs. 1 BGG). Im Übrigen habe der Beschwerdeführer nicht dargelegt, inwiefern die Vorinstanz durch die Verneinung des Härtefalls oder der Interessenabwägung Bundesrecht oder die EMRK verletzt habe.
  • Fazit zur Landesverweisung: Die Bestätigung der Landesverweisung von acht Jahren durch die Vorinstanz wurde als bundesrechtskonform befunden, da die Voraussetzungen für die Härtefallklausel nicht erfüllt seien.

2.5. Genugtuung: Die zugesprochene Genugtuung von CHF 8'000 an die Geschädigte (Rz. A) wurde vom Beschwerdeführer vor Bundesgericht nicht angefochten (Rz. C), weshalb sie nicht Gegenstand der Prüfung durch das Bundesgericht war.

3. Ergebnis:

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war. Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens wurden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen sexueller Handlungen an einer urteilsunfähigen oder widerstandsunfähigen Person (Art. 191 aStGB).
  • Die Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und Verletzung von in dubio pro reo wurde abgewiesen. Das Bundesgericht schützte die vorinstanzliche Würdigung der detaillierten und kohärenten Aussage der Geschädigten sowie die als unterstützend erachtete Zeugenaussage einer weiteren Kundin. Das Fehlen von DNA-Spuren wurde als nicht entscheidend erachtet.
  • Das lebenslange Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen gemäss Art. 67 Abs. 3 StGB wurde als korrekte Rechtsfolge der Verurteilung bestätigt. Eine Qualifikation als "Fall von geringer Schwere" im Sinne von Art. 67 Abs. 4bis StGB wurde gestützt auf die festgestellten Fakten (einschliesslich Penetration) verneint.
  • Die obligatorische Landesverweisung von acht Jahren gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB wurde ebenfalls bestätigt. Die Voraussetzungen für die Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB) seien nicht erfüllt, da der Beschwerdeführer keine ausreichenden Bindungen zur Schweiz aufweisen könne.

Dieses Urteil verdeutlicht einmal mehr die zurückhaltende Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts bei der Sachverhaltsfeststellung im Strafverfahren sowie die Strenge bei der Anwendung der automatischen Rechtsfolgen wie Tätigkeitsverbot und Landesverweisung bei schweren Sexualdelikten, bei denen die Härtefallklausel restriktiv gehandhabt wird.