Zusammenfassung von BGer-Urteil 1C_408/2024 vom 19. Mai 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 1C_408/2024 vom 19. Mai 2025:

Urteil: 1C_408/2024 vom 19. Mai 2025

Gegenstand: Entzug des Führerausweises nach qualifizierter schwerer Verkehrsregelverletzung

Parteien: * Beschwerdeführer: A.__ (vertreten durch Anwalt) * Beschwerdegegner: Dipartimento delle istituzioni del Cantone Ticino, Sezione della circolazione; Consiglio di Stato des Kantons Tessin

Ausgangslage und Sachverhalt: Dem 1953 geborenen Beschwerdeführer, der seit 1973 im Besitz des Führerausweises der Kategorie B ist und beruflich als Organisator gastronomischer Anlässe tätig ist, wurde eine qualifizierte schwere Verkehrsregelverletzung zur Last gelegt. Am 28. Juli 2018 befuhr er innerorts in Casaccia (GR) mit einer gemessenen Geschwindigkeit von 104 km/h eine Strecke, auf der das Tempolimit 50 km/h betrug. Nach Abzug der gesetzlichen Toleranz ergibt sich eine strafbare Geschwindigkeitsüberschreitung von 54 km/h. Anfänglich bestritt der Beschwerdeführer die Tat, gab später jedoch seine Verantwortung zu. Er erklärte, er habe die Leistung seines Fahrzeugs (über 400 PS) und die erreichte Geschwindigkeit nicht realisiert.

In einem strafrechtlichen Verfahren wurde der Beschwerdeführer am 12. April 2021 vom Regionalgericht Maloja der qualifizierten schweren Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 3 und Abs. 4 lit. b des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) in der damals geltenden Fassung für schuldig befunden. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von CHF 2'000 verurteilt. Dieses Strafurteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Nach Wiederaufnahme des administrativen Verfahrens entzog die Tessiner Sektion der Zirkulation dem Beschwerdeführer mit Verfügung vom 22. September 2023 den Führerausweis für die Dauer von 24 Monaten (vom 23. Oktober 2023 bis 22. Oktober 2025), unter gleichzeitiger Bewilligung des Führens von Fahrzeugen der Spezialkategorien G und M. Gestützt wurde dieser Entzug auf Art. 16c Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a bis SVG sowie auf Art. 33 Abs. 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV). Der Staatsrat des Kantons Tessin bestätigte diesen Entscheid am 20. März 2024, und das Kantonsgericht Tessin wies die dagegen gerichtete Beschwerde am 4. Juni 2024 ab.

Rechtsmittelverfahren vor Bundesgericht: Der Beschwerdeführer focht das Urteil des Kantonsgerichts mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht an. Er beantragte die Reduktion der Entzugsdauer auf 12 Monate, unter Gewährung des Suspensiveffekts (welcher per Präsidialverfügung vom 20. September 2024 gewährt wurde).

Rügen des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer bestreitet die festgestellten Tatsachen sowie deren rechtliche Qualifikation als qualifizierte schwere Verkehrsregelverletzung nicht. Seine Beschwerde konzentriert sich ausschliesslich auf die Dauer des Führerausweisentzugs. Er argumentiert, die Administrativbehörde und die kantonalen Gerichte hätten das am 1. Oktober 2023 in Kraft getretene neue Recht (insbesondere Art. 90 Abs. 3bis und 3ter SVG nSVG sowie Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG) anwenden müssen. Dieses neue Recht sei milder (lex mitior) und ermögliche eine geringere Strafe sowie eine Reduktion des Mindestentzugs für Ersttäter, was auf ihn zutreffe. Er beanstandet, die Behörden hätten das Strafurteil nicht autonom und präjudiziell im Lichte des neuen, milderen Rechts überprüfen müssen und so den Grundsatz der lex mitior sowie das Verhältnismässigkeitsprinzip verletzt. Er beruft sich auf seine strafrechtliche Unbescholtenheit (in den letzten 10 Jahren keine relevanten Verurteilungen) und die hypothetische Annahme, dass er nach neuem Recht eine geringere Strafe als ein Jahr Freiheitsstrafe erhalten hätte, was eine Reduktion des Mindestentzugs nach Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG ermöglichen würde.

Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:

  1. Zulässigkeit der Beschwerde: Das Bundesgericht stellt die grundsätzliche Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten fest (Art. 82 lit. a BGG). Die Beschwerde wurde fristgerecht eingereicht und der Beschwerdeführer ist zur Beschwerde legitimiert.

  2. Anwendbare Normen und Gesetzesänderung:

    • Das Bundesgericht rekapituliert die strafrechtliche Qualifikation nach Art. 90 Abs. 3 und 4 lit. b aSVG für das Rasen (erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung, die ein grosses Risiko schwerer Verletzungen oder Todesfälle schafft). Das Strafurteil basierte auf dieser Fassung, die einen zwingenden Mindestentzug von einem Jahr Freiheitsstrafe vorsah (bis 30. September 2023).
    • Es erläutert die Gesetzesänderung per 1. Oktober 2023, welche auf parlamentarische Vorstösse zur Korrektur der ursprünglichen "Via sicura"-Bestimmungen folgte (FF 2021 3026). Insbesondere wurde die zwingende Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe für qualifiziert schwere Verkehrsregelverletzungen (Art. 90 Abs. 3 SVG) beibehalten, jedoch mit Ausnahmen für bestimmte Strafmilderungsgründe (Art. 90 Abs. 3bis SVG) oder für Ersttäter, die in den letzten 10 Jahren keine relevanten Vorstrafen im Strassenverkehr aufweisen (Art. 90 Abs. 3ter SVG). Für Letztere ist neu eine Freiheitsstrafe bis zu vier Jahren oder eine Geldstrafe vorgesehen.
    • Parallel dazu wurde Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG angepasst. Dieser sieht nach einer qualifizierten schweren Verkehrsregelverletzung weiterhin einen Mindestentzug von zwei Jahren vor. Neu wird jedoch präzisiert, dass diese Mindestdauer um maximal 12 Monate reduziert werden kann, wenn im Strafverfahren eine Strafe von weniger als einem Jahr Freiheitsstrafe gemäss Art. 90 Abs. 3bis oder 3ter SVG nSVG ausgesprochen wurde.
  3. Bindungswirkung des Strafurteils und Lex mitior:

    • Das Bundesgericht erinnert an den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung (DTF 150 II 519), wonach Administrativbehörden grundsätzlich an die Sachverhaltsfeststellungen in rechtskräftigen Strafurteilen gebunden sind. Sie dürfen jedoch eine davon abweichende rechtliche Würdigung vornehmen (z.B. bezüglich Gefährdung und Verschulden nach SVG).
    • Das Bundesgericht bekräftigt die Anwendbarkeit des lex mitior-Prinzips (Art. 2 Abs. 2 StGB analog) auf Warnentzüge (DTF 149 II 96, 150 IV 481). Dieses Prinzip gebietet, dass bei einer Gesetzesänderung die zum Zeitpunkt der Entscheidung (hier: der administrativen Entzugsverfügung) geltenden Normen angewendet werden, falls sie für den Betroffenen milder sind. Die Prüfung erfolgt durch einen hypothetischen Vergleich zwischen altem und neuem Recht. Die lex mitior gilt auch für die strafrechtlichen Bestimmungen, soweit sie für den administrativen Entzug relevant sind (wie hier die Strafzumessungsgrundsätze nach Art. 90 SVG für die Reduktion des Mindestentzugs nach Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG).
    • Entgegen der Auffassung der kantonalen Vorinstanz war es im Rahmen der lex mitior-Prüfung im Administrativverfahren nicht erforderlich, das rechtskräftige Strafurteil des Regionalgerichts Maloja (das unter altem Recht ergangen ist und zu 12 Monaten Freiheitsstrafe verurteilte) formell zu "revidieren" oder eine neue, verbindliche Strafzumessung vorzunehmen. Vielmehr ging es darum, hypothetisch zu prüfen, wie die administrativen Entzugsfolgen wären, wenn das neue Recht zur Anwendung käme. Dazu gehört die hypothetische Annahme, ob nach neuem Recht eine Strafe unter einem Jahr möglich wäre, was wiederum die Möglichkeit einer Reduktion des Mindestentzugs begründen würde.
  4. Anwendung der Lex mitior auf den konkreten Fall:

    • Es steht fest, dass der Beschwerdeführer ein Ersttäter im Sinne von Art. 90 Abs. 3ter SVG nSVG ist (keine relevanten Vorstrafen in den letzten 10 Jahren). Nach neuem Recht wäre somit für die qualifizierte schwere Verkehrsregelverletzung eine Strafe unter einem Jahr Freiheitsstrafe oder sogar eine Geldstrafe möglich gewesen.
    • Das Bundesgericht weist jedoch darauf hin, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG nSVG eine Kann-Vorschrift ist; die blosse Abwesenheit von Vorstrafen führt nicht automatisch zu einer Strafe unter einem Jahr. Dem Gericht bleibt ein Ermessensspielraum. Angesichts der Schwere der konkreten Tat (54 km/h Überschreitung innerorts nach Toleranzabzug, Antrittsbeschleunigung, bekannte Gegebenheiten, hohes Gefährdungspotenzial für schwerwiegende Folgen) äussert das Bundesgericht erhebliche Zweifel, ob selbst nach neuem Recht eine Strafe unter einem Jahr Freiheitsstrafe ausgesprochen worden wäre. Diese Frage kann jedoch offenbleiben.
    • Das Bundesgericht betont, dass auch Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG eine Kann-Vorschrift ist ("darf reduziert werden"). Selbst wenn im Strafverfahren (hypothetisch nach neuem Recht) eine Strafe unter einem Jahr Freiheitsstrafe ausgesprochen worden wäre, bedeutet dies nicht, dass der Mindestentzug von 24 Monaten zwingend reduziert werden muss. Die Behörde hat ein Ermessen, ob sie die Reduktion von maximal 12 Monaten gewährt oder nicht.
  5. Ermessen der Administrativbehörde und Verhältnismässigkeit:

    • Die kantonalen Behörden haben im vorliegenden Fall den Mindestentzug von 24 Monaten beibehalten, obwohl sie die Möglichkeit einer Reduktion im Rahmen des neuen Rechts (Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG) hätten prüfen müssen.
    • Das Bundesgericht prüft, ob die Ausübung dieses Ermessens (bzw. das Unterlassen einer Reduktion) rechtmässig war. Dabei sind die Umstände des Einzelfalls nach Art. 16 Abs. 3 SVG zu berücksichtigen: das Gefährdungspotenzial, das Verschulden, der Leumund des Lenkers und die berufliche Notwendigkeit.
    • Angesichts der objektiven und subjektiven Schwere der Tat, die auch im rechtskräftigen Strafurteil vom 12. April 2021 bereits gewürdigt wurde (trotz der damals zwingenden Strafandrohung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe), erachtet das Bundesgericht die Beibehaltung des Mindestentzugs von 24 Monaten als rechtmässig und verhältnismässig.
    • Die Überschreitung des Tempolimits um 54 km/h innerorts stellt eine äusserst gravierende Verletzung dar, die mit einem erheblichen Risiko für schwerwiegende Folgen verbunden war. Die Ausführungen des Beschwerdeführers, die Überschreitung liege "nur" wenig über der Schwelle von 50 km/h (es waren 54 km/h nach Toleranzabzug), ändern nichts an der extrem hohen absoluten Geschwindigkeit innerorts und der damit verbundenen Gefahr.
    • Das Bundesgericht stellt fest, dass die kantonale Behörde ihr Ermessen im Sinne von Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG nicht missbräuchlich ausgeübt hat, indem sie angesichts der ausserordentlichen Schwere der Tat von einer Reduktion des Mindestentzugs von zwei Jahren absah. Die Massnahme ist im Ergebnis verhältnismässig und entspricht dem Bundesrecht.
  6. Verfahrensdauer: Die Rüge der Verletzung des Beschleunigungsgebots wird vom Bundesgericht abgewiesen, da die bisherige Verfahrensdauer dem Entzug seinen präventiven Zweck nicht genommen hat (Verweis auf frühere Urteile).

Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit sie zulässig ist. Die Beibehaltung des Führerausweisentzugs von 24 Monaten durch die kantonalen Behörden verstösst nicht gegen Bundesrecht.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 54 km/h innerorts (104 km/h in 50er Zone) stellt eine qualifizierte schwere Verkehrsregelverletzung dar (Art. 90 Abs. 3 und 4 lit. b SVG).
  • Das lex mitior-Prinzip (Art. 2 Abs. 2 StGB analog) ist auf administrative Führerausweisentzüge anwendbar und erfordert die Prüfung des milderen neuen Rechts.
  • Das neue Recht (Art. 90 Abs. 3ter und Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG, in Kraft seit 01.10.2023) sieht Erleichterungen für Ersttäter vor (mögliche mildere Strafe als 1 Jahr Freiheitsstrafe) und ermöglicht eine Reduktion des Mindestentzugs von 24 Monaten, wenn im Strafverfahren eine Strafe unter einem Jahr verhängt wurde.
  • Sowohl die Möglichkeit einer Strafe unter einem Jahr für Ersttäter (Art. 90 Abs. 3ter SVG nSVG) als auch die Möglichkeit der Reduktion des Mindestentzugs (Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG nSVG) sind Kann-Vorschriften, keine Muss-Vorschriften. Die Behörde hat hierbei ein Ermessen.
  • Angesichts der extremen Schwere der konkreten Geschwindigkeitsüberschreitung und des damit verbundenen hohen Gefährdungspotenzials war es rechtmässig und verhältnismässig, dass die kantonalen Behörden keine Reduktion des gesetzlichen Mindestentzugs von 24 Monaten vorgenommen haben. Es lag kein Ermessensmissbrauch vor.
  • Die (hypothetische) Frage, ob nach neuem Recht eine Strafe unter einem Jahr verhängt worden wäre, kann offenbleiben, da selbst bei einer solchen Strafe die Reduktion des Entzugs im Ermessen der Behörde liegt und die Schwere der Tat die Beibehaltung des Mindestentzugs rechtfertigt.