Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 5A_747/2023 vom 26. Mai 2025:
1. Gegenstand und Verfahrenshistorie
Das Urteil des Bundesgerichts (5A_747/2023 vom 26. Mai 2025) betrifft einen Rekurs gegen einen Entscheid des Genfer Kantonsgerichts (Cour de justice) vom 29. August 2023 in einer Scheidungssache, namentlich bezüglich vorsorglicher Massnahmen betreffend Unterhaltsbeiträge für die Ehefrau und den jüngeren Sohn der Parteien.
Die Parteien heirateten 1996, leben seit 2019 getrennt und der Ehemann hat 2021 die Scheidung beantragt. Sie haben zwei Söhne, geboren 2002 und 2005. Im Rahmen der vorsorglichen Massnahmen beantragte die Ehefrau Unterhaltsbeiträge für sich und den jüngeren Sohn D., der im Februar 2023 volljährig wurde.
Das erstinstanzliche Gericht (Tribunal de première instance) setzte Unterhaltsbeiträge für den Sohn (mit altersabhängigen Anpassungen) und die Ehefrau fest. Das Kantonsgericht modifizierte diese Beträge erheblich und legte gestaffelte Beiträge für verschiedene Zeitperioden fest, sowohl für den Sohn (vor und nach Volljährigkeit) als auch für die Ehefrau. Der Ehemann focht diese Festsetzung der Unterhaltsbeiträge vor Bundesgericht an.
2. Anwendbares Recht und Kognition des Bundesgerichts
Da es sich bei der angefochtenen Entscheidung um vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 98 BGG handelt, kann das Bundesgericht nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügen. Die Kognition ist somit beschränkt. Der Beschwerdeführer muss explizit darlegen, welche verfassungsmässige Bestimmung (insbesondere Art. 9 BV, Willkürverbot) verletzt sein soll und inwiefern (Prinzip der Rügepflicht/Allegrationsprinzip gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG). Willkür liegt vor, wenn ein Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, eine klare und unbestrittene Rechtsnorm grob missachtet oder in krasser Weise dem Gerechtigkeitsgedühl widerspricht. Es genügt nicht, dass eine andere Lösung vertretbar wäre.
Auch die Sachverhaltsfeststellung durch die Vorinstanz kann nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür überprüft werden (Art. 105 Abs. 1 BGG i.V.m. Art. 9 BGG). Der Beschwerdeführer muss präzise aufzeigen, inwiefern die Feststellung willkürlich ist, und kann nicht einfach seine eigene Sachverhaltsdarstellung oder Beweiswürdigung an die Stelle der vorinstanzlichen setzen.
3. Hypothesisches Einkommen der Ehefrau
Ein Hauptstreitpunkt betrifft die Frage, ob der Ehefrau ein höheres hypothetisches Einkommen angerechnet werden muss.
- Rechtlicher Rahmen: Gemäss Art. 176 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB (anwendbar per Verweis von Art. 276 Abs. 1 ZPO auf vorsorgliche Massnahmen) bestimmen sich die Unterhaltsbeiträge nach den wirtschaftlichen Verhältnissen und dem jeweiligen Bedarf der Ehegatten. Ab der Trennung, wenn keine vernünftige Aussicht auf Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft mehr besteht, ist grundsätzlich jeder Ehegatte verpflichtet, für seinen eigenen Unterhalt aufzukommen (Prinzip der finanziellen Selbständigkeit, BGE 148 III 358 E. 5, 147 III 301 E. 6.2, 147 III 308 E. 5.2). Ein Anspruch auf Unterhalt besteht nur, wenn der Ehegatte trotz zumutbarer Anstrengungen nicht in der Lage ist, seinen angemessenen Unterhalt selbst zu bestreiten (BGE 147 III 308 E. 5.2). Angemessener Unterhalt unterscheidet sich vom blossen Existenzminimum, wenn die Mittel der Parteien dies zulassen (BGE 148 III 358 E. 5).
Das Gericht kann ein hypothetisches Einkommen anrechnen, um die Parteien anzuhalten, ihre Erwerbsfähigkeit auszuschöpfen (BGE 143 III 233 E. 3.2). Die Anrechnung erfolgt in zwei Schritten: Zuerst ist rechtlich zu prüfen, ob eine Aufnahme oder Ausweitung der Erwerbstätigkeit zumutbar ist (Alter, Gesundheit, Ausbildung, Erfahrung, Flexibilität, Arbeitsmarkt). Danach ist tatsächlich zu prüfen, ob die Person eine solche Tätigkeit effektiv ausüben kann und welches Einkommen sie erzielen könnte (BGE 147 III 308 E. 4). Gemäss gefestigter Rechtsprechung wird vom betreuenden Elternteil grundsätzlich erwartet, ab Eintritt des jüngsten Kindes in die obligatorische Schule zu 50%, ab Sekundarstufe zu 80% und ab dem vollendeten 16. Lebensjahr des Kindes zu 100% zu arbeiten (BGE 144 III 481 E. 4.7.6). Bei einer geforderten Arbeitsaufnahme oder -ausweitung ist eine angemessene Anpassungsfrist zu gewähren (BGE 144 III 481 E. 4.6).
- Vorinstanzliche Argumentation: Das Kantonsgericht stellte fest, dass die Ehefrau bei einem 80%-Pensum als Pflegehelferin ein Nettoeinkommen von 3'342.30 CHF erzielt, was ihre Kosten gemäss familienrechtlichem Existenzminimum (2'721 CHF) deckt. Es sei auf Stufe der vorsorglichen Massnahmen nicht nötig, ihr ein hypothetisches Einkommen aus einer 100%-Tätigkeit anzurechnen; diese Frage könne gegebenenfalls im Scheidungsverfahren behandelt werden.
- Argumentation des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer rügt, das Gericht habe die Anforderung der finanziellen Selbständigkeit willkürlich auf die Deckung des Existenzminimums reduziert. Der jüngere Sohn sei bereits 2020 16 Jahre alt geworden, weshalb der Ehefrau gemäss Rechtsprechung seitdem eine 100%-Tätigkeit zumutbar sei. Angesichts der langjährigen Trennung sei es zudem übermässig, sechs oder sieben Jahre auf die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens zu warten. Der zugesprochene Unterhalt erlaube der Ehefrau einen höheren Lebensstandard als während der Ehe.
- Argumentation der Intimierten (Ehefrau): Sie verweist auf Art. 163 ZGB und meint, der Richter der vorsorglichen Massnahmen dürfe keine Grundsatzfragen entscheiden. Sie habe schnell Arbeit gefunden trotz mangelnder Berufsausbildung. Ihre Arbeit sei körperlich anstrengend und anspruchsvoll, 100%-Stellen in diesem Bereich seien selten. Die Stelle sei zwar nicht sehr gut bezahlt, aber stabil, weshalb es unverantwortlich wäre, sie für eine hypothetische Stelle aufzugeben. Sie bestreitet zudem, dass der zugesprochene Unterhalt einen höheren Lebensstandard als während der Ehe ermögliche.
- Würdigung durch das Bundesgericht: Der jüngere Sohn wurde 2020 16 Jahre alt. Die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens aus einer Vollzeittätigkeit, vom Ehemann beantragt, wurde vom Kantonsgericht nicht geprüft. Dieses beschränkte sich auf die Feststellung, dass das 80%-Einkommen der Ehefrau ihre Kosten decke. Dies genügt aber nicht, da der Unterhalt den angemessenen Unterhalt gewährleisten soll, welcher bei ausreichenden Mitteln (hier unbestritten) über das Existenzminimum hinausgeht. Diese Anforderung gilt, sobald keine vernünftige Aussicht auf Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft besteht (was nach Einreichung des Scheidungsgesuchs 2021 der Fall ist). Angesichts des Alters des Sohnes und mangels ausschliessender Umstände erscheint es gemäss Rechtsprechung grundsätzlich zumutbar, dass die Ehefrau eine Vollzeittätigkeit zur Deckung ihres angemessenen Unterhalts ausübt. Das Gericht hätte prüfen müssen, ob diese Möglichkeit effektiv besteht und ab wann. Falls es dies implizit verneint hätte (z.B. wegen Art der Arbeit, Alter), hätte es dies klar begründen müssen. Die Verschiebung der Prüfung ins Scheidungsverfahren ist offensichtlich bundesrechtswidrig und verstösst gegen die zitierte Rechtsprechung. Da der Ehegattenunterhalt auf einem potenziell zu niedrigen Einkommen basiert, ist das Ergebnis des Entscheids willkürlich. Das Bundesgericht hebt den Entscheid in diesem Punkt auf und weist die Sache zur Neubeurteilung ans Kantonsgericht zurück. Dieses muss prüfen, ob und wann der Ehefrau ein hypothetisches Einkommen aus einer 100%-Tätigkeit angerechnet werden kann, und den Unterhalt entsprechend anpassen. Die Frage des angeblich höheren Lebensstandards während der Ehe braucht unter diesen Umständen nicht geprüft zu werden.
4. Unterhalt für den Sohn
- Anteil am Überschuss (vor Volljährigkeit): Der Beschwerdeführer rügt, der Anteil des Sohnes am Familienüberschuss sei zu hoch, was zur Bildung von Ersparnissen und einem unzulässigen Vermögenstransfer führe. Dies sei willkürlich (Art. 276, 285 Abs. 1 ZGB).
Das Bundesgericht hält diesen Einwand für verfrüht, da der Familienüberschuss neu berechnet werden muss, nachdem das Einkommen der Ehefrau neu geprüft wurde.
- Unterhalt nach Volljährigkeit: Die vom Kantonsgericht festgesetzten Beträge für den Unterhalt des Sohnes nach dessen Volljährigkeit (ab März 2023) werden vom Beschwerdeführer grösstenteils nicht bestritten, ausser für den Monat Januar 2024. Der Beschwerdeführer beantragt hier 490 CHF statt der vom Gericht festgesetzten 670 CHF, begründet diese Differenz jedoch nicht.
Das Bundesgericht hält fest, dass der Beschwerdeführer seine Rüge bezüglich des Betrags für Januar 2024 nicht substanziiert hat (fehlendes Allegrationsprinzip, Art. 106 Abs. 2 BGG). Die vom Kantonsgericht festgesetzten Beträge für den Unterhalt des Sohnes nach dessen Volljährigkeit werden daher bestätigt: 490 CHF pro Monat vom 1. März 2023 bis 31. Dezember 2023, 670 CHF für Januar 2024 und 1'470 CHF pro Monat ab 1. Februar 2024.
5. Direkte Zahlungen an den Sohn
Der Beschwerdeführer beantragt, die von ihm direkt an den Sohn geleisteten Zahlungen in der Höhe von 3'155 CHF (Oktober 2022 bis Januar 2023) an den geschuldeten Kindesunterhalt anzurechnen. Er beruft sich auf willkürliche Anwendung von Art. 125 Ziff. 2 OR (Verrechnung) und behauptet, die Ehefrau habe dieser Anrechnung nicht widersprochen.
- Würdigung durch das Bundesgericht: Die Vorinstanz hat festgestellt, dass diese direkten Zahlungen (ob für Mahlzeiten, Taschengeld etc.) nicht bei der Berechnung des Bedarfs des Sohnes berücksichtigt wurden. Daher können sie auch nicht an den vom Vater geschuldeten Unterhaltsbeitrag angerechnet werden. Diese Begründung entspricht der Rechtsprechung (BGE 5A_601/2017 E. 10.3, 5A_807/2015 E. 3.3) und ist nicht willkürlich. Der angebliche fehlende Widerspruch der Ehefrau ist irrelevant. Der Beschwerdeführer hat zudem nicht willkürlich dargelegt, dass das Gericht die Berücksichtigung der Essenskosten im Bedarfs des Kindes willkürlich abgelehnt hätte. Der Einwand wird abgewiesen.
6. Rechenfehler
- Steuerliche Auswirkung der Volljährigkeit: Das Kantonsgericht berücksichtigte die geschätzte Steuererhöhung für den Vater von 182 CHF/Monat (da Kindesunterhalt nach Volljährigkeit nicht mehr abzugsfähig ist) erst ab dem 1. Januar 2024. Der Beschwerdeführer meint, dies hätte bereits ab dem 1. Januar 2023 erfolgen müssen, da der Sohn im Februar 2023 volljährig wurde und die steuerliche Wirkung somit das ganze Steuerjahr 2023 betrifft.
Das Bundesgericht erwägt, dass die Steuererklärung für 2023 notwendigerweise 2024 erstellt wird, und der Beschwerdeführer nicht darlegt, dass er diese mögliche Steuererhöhung bereits 2023 voraussichtlich entrichtet hat. Die Entscheidung des Kantonsgerichts ist in ihrem Ergebnis für diesen Punkt nicht willkürlich. Der Einwand wird abgewiesen.
- Berechnungsperiode Ehegattenunterhalt: Der Beschwerdeführer bemängelt, dass das Kantonsgericht bei der Berechnung des Unterhalts für die Ehefrau für die Periode vom 1. Oktober bis 31. Dezember 2022 (drei Monate) einen Abzug (für vom Mann bezahlte Wohnkosten) über vier Monate vorgenommen habe. Die Ehefrau hat diesen Fehler in ihrer Stellungnahme eingeräumt.
Das Bundesgericht stellt fest, dass dieser Rechenfehler besteht. Da jedoch der gesamte Unterhaltsbeitrag für die Ehefrau zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, ist dieser Fehler bei der neuen Berechnung zu korrigieren.
7. Fazit
Das Bundesgericht heisst den Rekurs teilweise gut. Es hebt das Urteil des Kantonsgerichts bezüglich der Höhe des Unterhaltsbeitrags für die Ehefrau und des Unterhaltsbeitrags für den Sohn für die Zeit vor dessen Volljährigkeit auf und weist die Sache zu diesen Punkten zur neuen Entscheidung an das Kantonsgericht zurück. Im Übrigen, soweit zulässig, wird der Rekurs abgewiesen.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Das Bundesgericht hebt das Urteil des Kantonsgerichts bezüglich des Ehegattenunterhalts und des Kindesunterhalts vor dessen Volljährigkeit auf.
- Es rügt die willkürliche Anwendung der Rechtsprechung zur Anrechnung eines hypothetischen Einkommens: Das Kantonsgericht hätte prüfen müssen, ob und ab wann der Ehefrau eine Vollzeittätigkeit zumutbar und effektiv möglich ist, da der Sohn seit 2020 16 Jahre alt ist und die Parteien seit langem getrennt leben. Die Beschränkung auf die Deckung des blossen Existenzminimums bei ausreichenden Mitteln genügt nicht, da der angemessene Unterhalt geschuldet ist.
- Die Frage des hypothetischen Einkommens der Ehefrau muss vom Kantonsgericht neu geprüft und die Unterhaltsbeiträge entsprechend angepasst werden.
- Der Einwand gegen den Anteil des Sohnes am Überschuss vor Volljährigkeit ist verfrüht, da der Überschuss neu berechnet werden muss.
- Die vom Beschwerdeführer geleisteten direkten Zahlungen an den Sohn können nicht an den geschuldeten Unterhaltsbeitrag angerechnet werden, da sie nicht Teil der gerichtlichen Bedarfsberechnung waren.
- Die Rüge eines Rechenfehlers bei der Berücksichtigung der Steuererhöhung wurde abgewiesen, da das Ergebnis für den betroffenen Zeitraum nicht als willkürlich erachtet wurde.
- Ein vom Beschwerdeführer geltend gemachter und von der Ehefrau zugestandener Rechenfehler bei der Berechnung des Ehegattenunterhalts für eine bestimmte Periode muss bei der Neubeurteilung durch das Kantonsgericht korrigiert werden.
- Der Unterhalt des Sohnes nach Volljährigkeit wird, mit Ausnahme des zurückgewiesenen Anteils am Überschuss, bestätigt.