Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_409/2024 vom 13. Mai 2025

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Absolut. Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des bereitgestellten Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (9C_409/2024) vom 13. Mai 2025:

Zusammenfassung des Urteils 9C_409/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 13. Mai 2025

1. Einleitung und Streitgegenstand

Das Bundesgericht hatte sich mit einem Rechtsstreit im Bereich der Invalidenversicherung (IV) zu befassen. Die Beschwerdeführerin, eine junge Frau mit angeborener bilateraler Blindheit, die seit 2013 besteht, beantragte Taggelder während ihrer akademischen Ausbildung (Bachelor/Masterstudium) an der École B.__, die sie im Herbst 2019 begann. Die IV-Stelle des Kantons Waadt hatte die Übernahme der behinderungsbedingten Mehrkosten für das Studium und die Unterkunft gewährt, den Anspruch auf Taggelder jedoch verneint. Das Kantonale Versicherungsgericht Waadt hatte diese Ablehnung bestätigt, worauf die Beschwerdeführerin den Weg an das Bundesgericht beschritt.

Kern des Streits war die Frage, ob die Beschwerdeführerin während ihres Studiums Anspruch auf Taggelder der IV hat, und ob die Vorinstanz bei der Beurteilung dieses Anspruchs Bundesrecht verletzt oder den Sachverhalt willkürlich festgestellt hat.

2. Anwendbares Recht und rechtlicher Rahmen

Das Bundesgericht stellte fest, dass das am 1. Januar 2022 in Kraft getretene revidierte IV-Gesetz (Weiterentwicklung der IV) in diesem Fall nicht anwendbar ist. Gemäss intertemporalem Recht sind die Gesetzesbestimmungen massgebend, die im Zeitpunkt der rechtlich relevanten Sachverhalte in Kraft standen. Da die umstrittene berufliche Massnahme (das Studium, für das Taggelder beantragt werden) vor dem 1. Januar 2022 begann, ist das bis zum 31. Dezember 2021 gültige Recht anzuwenden (E. 2.2).

Die massgebenden Bestimmungen sind insbesondere Art. 16 Abs. 1 LAI (a.F., Ausbildungsmassnahmen), Art. 5 RAI (a.F., Berufliche Erstausbildung) sowie Art. 22 Abs. 1bis LAI (a.F.) und Art. 22 Abs. 1 RAI (a.F.). Gemäss Art. 22 Abs. 1bis LAI (a.F.) hatten Versicherte, die eine berufliche Erstausbildung absolvieren, sowie Versicherte unter 20 Jahren, die noch keine Erwerbstätigkeit ausgeübt haben, Anspruch auf Taggelder, wenn sie ihre Erwerbsfähigkeit ganz oder teilweise verloren haben.

Die Rechtsprechung interpretierte den Begriff des "Verlusts der Erwerbsfähigkeit" im Kontext von Art. 22 Abs. 1bis LAI (a.F.) als eine "Erwerbseinbusse aufgrund der Invalidität" (ATF 124 V 113 E. 4b). Das Bundesgericht führte gestützt auf die Botschaft zur 2. und 5. IV-Revision detailliert aus (E. 5.2.1, 5.2.2), dass der Gesetzgeber mit dieser Formulierung in Art. 22 LAI stets eine tatsächliche Erwerbseinbusse aufgrund der Invalidität kompensieren wollte und diese Voraussetzung gesetzlich verankert ist, nicht nur in administrativen Richtlinien.

Eine solche Erwerbseinbusse liegt gemäss ständiger Rechtsprechung und den anwendbaren Verwaltungsrichtlinien (Kreisschreiben über die Taggelder der IV, KOT, Fassung ab 1.1.2019, Ziff. 1032 ff.) insbesondere vor, wenn: a) Die Ausbildung aufgrund der Invalidität verspätet begonnen wird (Nachteil gegenüber Lehrlingslohn). b) Die Ausbildung aufgrund der Invalidität verlängert werden muss (z.B. weil nach der Ausbildung aufgrund der Invalidität keine Stelle gefunden wird und deshalb weiterstudiert werden muss; vgl. ATF 124 V 113 E. 4c; KOT Ziff. 1034). c) Genügend Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die versicherte Person, wenn sie nicht invalid wäre, regelmässig neben dem Studium (Semester oder Ferien) eine Erwerbstätigkeit ausüben müsste, um einen wesentlichen Teil ihrer Lebenshaltungskosten und der für die Studienfinanzierung notwendigen Mittel zu bestreiten (ATF 124 V 113 E. 4b; KOT Ziff. 1039).

Das Bundesgericht verwies zudem auf den Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c LPGA) und die Mitwirkungspflicht der Parteien (ATF 139 V 176 E. 5.2). Obwohl administrative Richtlinien das Gericht grundsätzlich nicht binden, werden sie bei der Rechtsanwendung berücksichtigt, wenn sie eine sachgerechte und billige Auslegung ermöglichen und eine gleichmässige Rechtsanwendung fördern (ATF 148 V 102 E. 4.2).

3. Entscheid der Vorinstanz

Die Vorinstanz (Kantonales Versicherungsgericht) hatte festgestellt, dass die IV-Stelle keinen unzulässigen Rechtsverweigerung begangen hatte, sondern mit Schreiben vom 1. März 2023 eine anfechtbare (wenn auch informelle) Verfügung erlassen hatte. Sie prüfte den Taggeldanspruch materiell und verneinte ihn. Die Vorinstanz begründete dies damit, dass kein Nachweis oder auch nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass die Beschwerdeführerin eine Erwerbseinbusse aufgrund ihrer Invalidität erlitten habe. Konkret fehle es an Anhaltspunkten dafür, dass sie ohne ihre gesundheitliche Beeinträchtigung regelmässig neben dem Studium gearbeitet hätte, um einen wesentlichen Teil ihres Lebensunterhalts und der Studienkosten zu decken. Ebenso wenig sei die Ausbildung aufgrund der Invalidität verspätet begonnen oder verlängert worden (E. 3).

4. Argumente der Beschwerdeführerin vor Bundesgericht

Die Beschwerdeführerin rügte im Wesentlichen zwei Punkte: a) Verfahrensfehler: Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 6 EMRK) durch die Nichtabnahme beantragter Beweise (Einvernahme der Eltern und eines Sozialberaters der Universität), die Aufschluss über ihre persönliche Situation, den Studienplan und die Anforderungen hätten geben sollen, um die Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit neben dem Studium zu beurteilen (E. 4.1). b) Materielle Rechtsverletzung: Verletzung von Art. 22 LAI und des Untersuchungsgrundsatzes sowie willkürliche Sachverhaltsfeststellung. Sie machte geltend, die Vorinstanz habe die wirtschaftliche und soziale Bedeutung studentischer Arbeit verkannt und die Notwendigkeit, neben dem Studium zu arbeiten, nicht genügend berücksichtigt. Eine "summarische und schematische" Prüfung reiche hierfür nicht aus. Die konkrete Prüfung ihrer finanziellen Situation sei zudem diskriminierend (Art. 8 Abs. 2 BV), da es für vor Studienbeginn invalide Personen praktisch unmöglich sei, die hypothetische Notwendigkeit einer parallelen Erwerbstätigkeit glaubhaft zu machen, anders als bei Personen, die während des Studiums invalid wurden und zuvor bereits nebenbei gearbeitet hatten. Die Berücksichtigung der finanziellen Verhältnisse der Eltern sei zudem den IV-Anspruchsvoraussetzungen fremd (E. 5.1). Schliesslich rügte sie auch die Verneinung einer Studienverlängerung aufgrund der Invalidität als willkürlich (E. 5.4).

5. Begründung und Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab und bestätigte den Entscheid der Vorinstanz.

  • Zu den Verfahrensrügen (Beweisanträge): Das Gericht erklärte, dass das Recht auf Beweismittel (Teil des Anspruchs auf rechtliches Gehör) nicht unbegrenzt ist. Eine Behörde kann auf die Abnahme weiterer Beweise verzichten, wenn sie in antizipierter Beweiswürdigung zur Überzeugung gelangt, dass diese am Ergebnis nichts ändern würden. Die Rüge der Beschwerdeführerin, dass die beantragten Zeugenaussagen relevant gewesen wären, wurde mit dem materiellen Einwand der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung verbunden. Das Gericht stellte fest, dass die Vorinstanz die beantragten Aussagen ohne Willkür ablehnen konnte, da die vorgelegten schriftlichen Dokumente (Arztzeugnis, Attest des Sozialberaters) zwar die Unmöglichkeit einer parallelen Erwerbstätigkeit aufgrund der Behinderung und des anspruchsvollen Studiums belegten, jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür lieferten, dass eine solche Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Studienfinanzierung überhaupt notwendig gewesen wäre, wenn die Beschwerdeführerin nicht invalid gewesen wäre. Es wurde weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass sie ihre Studien aus eigenen Mitteln hätte finanzieren müssen (z.B. wegen fehlenden Vermögens oder bescheidenem Einkommen der Eltern). Die Rügen bezüglich unzureichender Instruktion und willkürlicher Sachverhaltsfeststellung in diesem Zusammenhang verwarf das Gericht, da die Beschwerdeführerin trotz Aufforderung der IV-Stelle keine Nachweise für die Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit erbracht hatte (E. 4.2, 4.3, 5.3.1, 5.3.2).
  • Zur materiellen Rüge (Erwerbseinbusse/Manque à gagner):

    • Das Gericht stellte zunächst klar, dass die Voraussetzung der Erwerbseinbusse ("manque à gagner") eine gesetzliche Anforderung ist und nicht bloss auf administrativen Richtlinien beruht (E. 5.2).
    • Es bekräftigte, dass Taggelder während der Erstausbildung nur den Verlust eines Einkommens kompensieren sollen, das zur Bestreitung des Lebensunterhalts notwendig gewesen wäre (E. 5.3.2, unter Verweis auf Botschaft 2017 2386). Da die Beschwerdeführerin nicht dargelegt hatte, dass sie ohne ihre Invalidität auf eine parallele Erwerbstätigkeit angewiesen gewesen wäre, um ihren Lebensunterhalt oder ihre Studien zu finanzieren, sei keine notwendige Erwerbseinbusse glaubhaft gemacht (E. 5.3.2).
    • Der Diskriminierungseinwand (vor vs. während des Studiums invalid) wurde zurückgewiesen. Das Gericht hielt fest, dass es der Beschwerdeführerin durchaus möglich gewesen wäre, im Verwaltungsverfahren oder im kantonalen Beschwerdeverfahren darzulegen und glaubhaft zu machen, dass sie ohne ihre Invalidität eine parallele Erwerbstätigkeit zur Deckung ihrer Bedürfnisse ausgeübt hätte. Sie habe diese Möglichkeit jedoch nicht genutzt (E. 5.3.2).
    • Die Rüge der willkürlichen Verneinung einer Studienverlängerung wurde ebenfalls abgewiesen. Das Gericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerin gemäss den unbestrittenen kantonalen Feststellungen alle Studienjahre erfolgreich abgeschlossen und sogar ein Mobilitätsjahr absolviert habe. Eine Verlängerung im Sinne der Rechtsprechung liege vor, wenn die Ausbildung verlängert werde, weil der Versicherte nach Abschluss der regulären Ausbildungsdauer aufgrund der Invalidität keine Arbeitsstelle finde. Die Beschwerdeführerin habe jedoch nicht geltend gemacht, dass sie ihr Studium aus diesem Grund habe verlängern müssen (E. 5.4).
  • Fazit des Bundesgerichts: Angesichts der vorgebrachten Argumente sah das Bundesgericht keinen Anlass, von der Beurteilung der Vorinstanz abzuweichen. Die Voraussetzungen für einen Taggeldanspruch gemäss Art. 22 LAI (a.F.) während des Studiums der Beschwerdeführerin im Herbst 2019 seien nicht erfüllt (E. 5.5).

6. Kosten

Die Gerichtskosten wurden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (E. 6).

7. Wesentliche Punkte in Kürze

Die wesentlichen Punkte des Urteils sind: * Massgebend für den Taggeldanspruch während einer vor dem 1. Januar 2022 begonnenen Ausbildung ist das alte Recht (Art. 22 Abs. 1bis LAI a.F. und Art. 22 Abs. 1 RAI a.F.). * Voraussetzung für den Taggeldanspruch ist eine Erwerbseinbusse aufgrund der Invalidität ("manque à gagner dû à l'invalidité"). Dies ist eine gesetzliche und keine bloss administrative Anforderung. * Eine solche Erwerbseinbusse liegt insbesondere vor, wenn der Versicherte ohne die Invalidität regelmässig neben dem Studium hätte arbeiten müssen, um seinen Lebensunterhalt oder seine Studienkosten zu finanzieren. Es genügt nicht, dass die Invalidität die Möglichkeit einer parallelen Erwerbstätigkeit einschränkt; es muss eine Notwendigkeit für diese Erwerbstätigkeit bestanden haben. * Eine Erwerbseinbusse liegt auch bei einer studienverlängerung vor, wenn diese erforderlich ist, weil nach der regulären Studienzeit aufgrund der Invalidität keine Anstellung gefunden werden kann. * Die Beschwerdeführerin konnte im vorliegenden Fall weder glaubhaft machen, dass sie ohne ihre Invalidität auf eine parallele Erwerbstätigkeit angewiesen gewesen wäre, noch dass sie ihr Studium aufgrund der Invalidität verlängern musste, um eine Arbeitsstelle zu finden. * Die Ablehnung von Beweisanträgen ist zulässig, wenn das Gericht in antizipierter Beweiswürdigung zur Überzeugung gelangt, dass die zusätzlichen Beweise am Ergebnis nichts ändern würden, insbesondere wenn die Partei die erforderlichen Glaubhaftmachungen zur Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit unterlassen hat. * Der Vorinstanz wurde weder eine Rechtsverletzung noch eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung vorgeworfen.

Das Bundesgericht bestätigte somit die Praxis, wonach Taggelder während einer Erstausbildung nur bei Nachweis oder glaubhafter Darstellung einer notwendigen Erwerbseinbusse infolge der Invalidität gewährt werden, wobei die reine Möglichkeit oder der Wunsch, nebenbei zu arbeiten, nicht genügt, wenn keine finanzielle Notwendigkeit dafür besteht.