Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_627/2024 vom 13. Mai 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 8C_627/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts:

1. Einleitung

Das Urteil des Bundesgerichts (IV. Öffentlich-rechtliche Abteilung) vom 13. Mai 2025 (Verfahren 8C_627/2024) betrifft eine Beschwerde im Bereich der Unfallversicherung. Streitig sind die Einstellung von Pflegeleistungen und Taggeldern sowie die Verweigerung einer Invalidenrente und einer Integritätsentschädigung (IE) nach einem Verkehrsunfall. Das Bundesgericht hatte zu prüfen, ob die Vorinstanz, das Versicherungsgericht des Kantons Tessin, die Sachverhaltsfeststellung und die Anwendung der Unfallversicherungsgesetze (insbesondere LAINF) korrekt vorgenommen hat.

2. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte

Die 1965 geborene Beschwerdeführerin, die zu 70% als Sekretärin in der Arztpraxis ihres Ehemanns tätig war und somit obligatorisch bei der Allianz Suisse Società di Assicurazioni SA (nachfolgend: Allianz) unfallversichert war, wurde am 21. Januar 2020 als Fussgängerin von einem Auto angefahren und erlitt ein Quetschtrauma am linken Unterschenkel. Die Allianz übernahm den Fall und erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Nach einer ersten Beurteilung wurde die Arbeitsfähigkeit als Sekretärin ab 1. Januar 2021 als vollumfänglich wiederhergestellt angesehen und das Taggeld eingestellt.

Nach Einsprüchen und weiteren medizinischen Abklärungen, insbesondere einem multidisziplinären Gutachten des Zentrums C.__, stellte die Allianz das Taggeld mit Wirkung per 1. Januar 2021 ein und beendete den Anspruch auf Pflegeleistungen per Oktober 2022. Nach weiterem Einspracheverfahren und Ergänzungsgutachten passte die Allianz ihre Entscheidung an: Der Anspruch auf Pflegeleistungen endete für orthopädische und angiologische Aspekte am 31. Dezember 2021 und für neurologische Aspekte am 30. Oktober 2022. Zudem wurde der Anspruch auf eine Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung verneint.

Die Beschwerdeführerin erhob Einsprache, woraufhin ein weiteres Ergänzungsgutachten von C.__ eingeholt wurde. Mit Einspracheentscheid vom 12. Dezember 2023 bestätigte die Allianz ihre vorherige Entscheidung vollumfänglich.

Das Versicherungsgericht des Kantons Tessin wies mit Urteil vom 30. September 2024 die Beschwerde der Versicherten gegen den Einspracheentscheid ab und bestätigte die Leistungsablehnung.

3. Gegenstand des Bundesgerichtsverfahrens

Gegen das Urteil des Kantonsgerichts reichte die Versicherte Beschwerde beim Bundesgericht ein. Sie beantragte die Aufhebung des kantonalen Urteils und die Rückweisung der Angelegenheit an die Allianz für weitere Abklärungen (mittels Neugutachten), eine Entscheidung über die Übernahme der Heilungskosten und die Ausrichtung von Taggeldern, sowie nach Stabilisierung des Zustands eine Entscheidung über Invalidenleistungen und die IE.

Streitgegenstand vor Bundesgericht war die Rechtmässigkeit der Einstellung der kurzfristigen Leistungen (Taggeld, Pflegeleistungen) und der Verweigerung der Invalidenrente und der IE.

4. Anwendbares Recht und rechtliche Grundsätze

Das Bundesgericht führt die relevanten Bestimmungen des Unfallversicherungsgesetzes (LAINF) auf, die das Recht auf Pflegeleistungen (Art. 10 LAINF), Taggeld (Art. 16 LAINF), Invalidenrente (Art. 19 LAINF) und Integritätsentschädigung (Art. 24 LAINF) regeln. Es verweist auch auf die ständige Rechtsprechung zur Würdigung von medizinischen Berichten.

  • Beweiswert von medizinischen Gutachten: Gemäss ständiger Rechtsprechung kommt externen, spezialärztlichen Gutachten, die im Rahmen des Verwaltungsverfahrens (Art. 44 ATSG) oder des gerichtlichen Verfahrens erstellt wurden, volle Beweiskraft zu, sofern keine konkreten Anzeichen bestehen, die ihre Zuverlässigkeit in Zweifel ziehen (BGE 135 V 465 E. 4.4; 125 V 351 E. 3b/bb). Solche Gutachten können nicht allein deshalb in Frage gestellt werden, weil sie zu anderen Schlüssen gelangen als die behandelnden Ärzte. Abweichungen sind dann relevant, wenn die behandelnden Ärzte wichtige Aspekte hervorheben, die nicht nur eine rein subjektive medizinische Interpretation darstellen. Es wird auf den unterschiedlichen Charakter des Behandlungs- und des Gutachterauftrags hingewiesen. Demgegenüber genügen bei internen Berichten des Versicherers bereits minimale Zweifel an deren Zuverlässigkeit, um eine externe Untersuchung zu verlangen.

5. Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Argumente der Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Kantonsgerichts und die zugrundeliegenden Gutachten.

5.1. Würdigung der Sachverhaltsfeststellung (mit Ausnahme der Rentenberechnung)

Das Bundesgericht bestätigte im Wesentlichen die Sachverhaltsfeststellung des Kantonsgerichts, soweit sie nicht die spezifische Frage der Rentenberechnung betraf. * Stabilisierung des Zustands und Pflegeleistungen: Das Bundesgericht schloss sich der Vorinstanz an, dass der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin als stabilisiert im Sinne von Art. 19 Abs. 1 LAINF zu betrachten sei (Dauerzustand, bei dem eine wesentliche Verbesserung durch weitere Therapien nicht mehr zu erwarten ist). Die von der Beschwerdeführerin weiterhin als notwendig erachteten Behandlungen (Physiotherapie, Massagetherapie, Balneotherapie) wurden zu Recht als konservative Massnahmen gewürdigt, die den Zustand erhalten, aber keine wesentliche Verbesserung mehr bewirken. Die Tatsache, dass solche Erhaltungstherapien weiterhin nötig sein mögen, sei für die Frage der Beendigung der Heilbehandlung im unfallversicherungsrechtlichen Sinn irrelevant. Das Gericht verwies auf die überzeugenden Stellungnahmen der C._-Gutachter hierzu. * Beweiswert des C.__-Gutachtens und der Ergänzungen: Das Bundesgericht wies die von der Beschwerdeführerin geäusserte Kritik an der Zuverlässigkeit des C._-Gutachtens zurück. Die Vorinstanz habe die verschiedenen medizinischen Berichte und Einwände der Beschwerdeführerin umfassend gewürdigt und plausibel dargelegt, weshalb sie auf das multidisziplinäre Gutachten und dessen Ergänzungen abstellt. Insbesondere sei die Kritik bezüglich der Anzahl der Neurome (ein vs. multiple) und der Relevanz der Schädigung sensorischer Nerven von den Gutachtern überzeugend entkräftet worden. Die Gutachter hätten dargelegt, dass es irrelevant sei, ob ein einzelnes oder mehrere Neurome vorlägen, da dies zu ähnlichen neuropathischen Schmerzen führe und keine zusätzlichen neurogenen Paresen verursache. Die Beschwerdeführerin habe es versäumt, auf der Grundlage der medizinischen Akten substanziiert darzulegen, weshalb die Meinung ihrer behandelnden Ärzte, die eine deutlich geringere Arbeitsfähigkeit attestierten (30%), gegenüber dem Gutachten von C.__ vorzuziehen wäre. Das Bundesgericht betonte, dass die blosse Gegenüberstellung abweichender ärztlicher Meinungen nicht ausreiche, um ein nach Art. 44 ATSG eingeholtes Gutachten zu widerlegen. Auch die Kritik an der Beurteilung der degenerativen Knieprobleme als unfallfremd wurde als reine Appellation zurückgewiesen. * Bestätigung der Arbeitsfähigkeit von 90% und der Verweigerung der IE: Das Bundesgericht bestätigte die Schlussfolgerung der Gutachter und des Kantonsgerichts, wonach die Beschwerdeführerin in ihrer angestammten Tätigkeit als Sekretärin eine Arbeitsfähigkeit von 90% bezogen auf eine Vollzeittätigkeit aufweist. Es wurde auch festgehalten, dass die Experten eine Kompensation der verbleibenden 10% Arbeitsunfähigkeit in einer anderen Tätigkeit ausgeschlossen hatten, da das Schmerzsyndrom weitgehend unabhängig von körperlicher Anstrengung sei. Die Verweigerung der Integritätsentschädigung durch die Vorinstanz, basierend auf der Beurteilung der Gutachter, wurde ebenfalls nicht beanstandet, da die Einwände der Beschwerdeführerin hierzu nicht substanziiert widerlegt worden seien.

5.2. Rechtsfehler bei der Berechnung der Invalidenrente für Teilzeiterwerbstätige

Das Bundesgericht identifizierte jedoch einen spezifischen Rechtsfehler in der Begründung des Kantonsgerichts für die Verweigerung der Invalidenrente.

  • Das Kantonsgericht hatte die Invalidenrente verweigert mit der Begründung, die Beschwerdeführerin habe "wieder eine Arbeitsfähigkeit von 90 % in der Ausübung der gewohnten Tätigkeit [...] erreicht, die vor dem Gesundheitsschaden zu 70 % ausgeübt wurde".
  • Das Bundesgericht stellte fest, dass diese Schlussfolgerung nicht mit der Rechtsprechung zur Invaliditätsberechnung bei Teilzeiterwerbstätigen vereinbar ist.
  • Grundsatz: Bei der Berechnung des Invaliditätsgrades wird das Valideneinkommen eines vor dem Unfall teilzeiterwerbstätigen Versicherten zum Vergleich mit dem Invalideneinkommen auf einer 100%-Basis ermittelt (was er potenziell vollzeiterwerbstätig verdient hätte). Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein teilinvalidisierter Teilzeiterwerbstätiger entschädigt wird, als hätte er vollzeit gearbeitet.
  • Rentenhöhe: Die Höhe der Rente bemisst sich grundsätzlich am versicherten Verdienst (Art. 15 Abs. 2 LAINF), d.h. am tatsächlich im Jahr vor dem Unfall erzielten Lohn. Die Rente beträgt bei Vollinvalidität 80% dieses Verdienstes und wird bei Teilinvalidität proportional gekürzt (Art. 20 Abs. 1 LAINF). Der Betrag des massgebenden Verdienstes dient somit als gesetzliches Korrektiv (BGE 135 V 287 E. 3.2; 119 V 475 E. 2b und 2c).
  • Anwendung auf den Fall: Angesichts einer festgestellten Arbeitsunfähigkeit von 10% (entspricht 90% Arbeitsfähigkeit) und dem Fehlen jeglicher Ausführungen zur Berechnung einer möglichen Invalidenrente (die im Rechtsbegehren verlangt wurde), erachtete das Bundesgericht die Schlussfolgerung des Kantonsgerichts als bundesrechtswidrig. Die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin ihre angestammte Tätigkeit vor dem Unfall nur zu 70% ausübte, ist für die Höhe des versicherten Verdienstes und somit der Rente relevant, nicht aber für die Frage, ob ein Invaliditätsgrad vorliegt, der grundsätzlich Anspruch auf eine Rente gewährt.
  • Konsequenz: Dieser Rechtsfehler führte zur Aufhebung des kantonalen Urteils und des Einspracheentscheids der Allianz bezüglich der Invalidenrente und zur Rückweisung der Sache an den Versicherer zur Neubeurteilung des Rentenanspruchs unter Berücksichtigung dieser Grundsätze.

6. Ergebnis

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde teilweise gut. * Die Sachverhaltsfeststellungen des Kantonsgerichts bezüglich der Einstellung der Pflegeleistungen und des Taggeldes sowie der Verweigerung der Integritätsentschädigung wurden bestätigt. Die Rügen der Beschwerdeführerin gegen die Beweiswürdigung und die Zuverlässigkeit des Gutachtens (soweit nicht die Rentenberechnung betroffen) wurden abgewiesen. * Das Urteil des Kantonsgerichts und der Einspracheentscheid der Allianz wurden jedoch aufgehoben, soweit sie die Verweigerung der Invalidenrente betrafen. * Die Sache wurde an die Allianz zurückgewiesen, damit diese unter Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur Rentenberechnung bei Teilzeiterwerbstätigkeit eine neue Entscheidung über den Anspruch auf eine Invalidenrente treffe. * Die Rückweisung der Sache mit offenem Ausgang wurde als volles Obsiegen gewertet. Die Gerichtskosten wurden der Allianz auferlegt, und diese wurde verpflichtet, die Parteikosten der Beschwerdeführerin für das Bundesgerichtsverfahren zu erstatten. Die Regelung der Parteikosten für das kantonale Verfahren wurde an das Versicherungsgericht zurückgewiesen.

7. Wesentliche Punkte der Zusammenfassung

  • Bestätigung der medizinischen Beurteilung: Das Bundesgericht bestätigt, dass der Zustand der Beschwerdeführerin als stabilisiert gilt (Dauerzustand) und weitere Therapien als konservativ anzusehen sind, was die Einstellung der kurzfristigen Leistungen (Pflegeleistungen, Taggeld) rechtfertigt. Die Argumente gegen die Zuverlässigkeit des multidisziplinären Gutachtens wurden im Wesentlichen abgewiesen.
  • Bestätigung der Arbeitsfähigkeit und IE-Verweigerung: Die im Gutachten festgestellte 90%ige Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit und die Verweigerung der Integritätsentschädigung wurden vom Bundesgericht ebenfalls bestätigt.
  • Rechtsfehler bei der Rentenberechnung: Ein spezifischer Rechtsfehler wurde bei der Beurteilung des Invalidenrentenanspruchs festgestellt. Das Kantonsgericht hatte die Rente zu Unrecht verweigert, indem es die vor dem Unfall ausgeübte Teilzeitbeschäftigung (70%) mit der nach dem Unfall festgestellten Arbeitsfähigkeit (90%) in der angestammten Tätigkeit verknüpfte.
  • Grundsatz für Teilzeit: Das Bundesgericht stellt klar, dass bei Teilzeiterwerbstätigen die Rentenhöhe auf Basis des tatsächlichen versicherten Verdienstes vor dem Unfall berechnet wird, auch wenn die Vergleichsrechnung des Invaliditätsgrades von einer potenziellen Vollzeittätigkeit ausgeht.
  • Folge: Rückweisung zur Neubeurteilung der Rente: Aufgrund dieses Rechtsfehlers wurde die Sache an den Versicherer zurückgewiesen, um den Anspruch auf eine Invalidenrente neu zu prüfen und zu entscheiden, unter Berücksichtigung der festgestellten 10%igen Arbeitsunfähigkeit und der korrekten Methode zur Berechnung der Rente für Teilzeiterwerbstätige.

Das Bundesgericht hat somit die medizinische Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz weitgehend bestätigt, jedoch einen spezifischen Rechtsfehler bei der Anwendung dieser Fakten auf die Berechnung des Invalidenrentenanspruchs für eine Teilzeiterwerbstätige korrigiert, was zur teilweisen Gutheissung der Beschwerde und zur Rückweisung der Angelegenheit an den Versicherer für eine neue Rentenentscheidung führte.