Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_315/2025 vom 2. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 7B_315/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts:

1. Hintergrund und Ausgangslage

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (II. Strafrechtliche Abteilung) vom 2. Juni 2025 befasst sich mit der Frage der Aufrechterhaltung der Haft bzw. des vorzeitigen Strafvollzugs und der Ablehnung von Ersatzmassnahmen gemäss Art. 237 ff. der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO). Der Beschwerdeführer (A.__) befindet sich seit dem 14. August 2018 ununterbrochen in Haft, anfänglich in Untersuchungshaft, später teilweise im vorzeitigen Strafvollzug. Ihm werden äusserst schwere Gewaltdelikte (schwere Körperverletzung, Gefährdung des Lebens, Freiheitsberaubung, Nötigung, Drohung etc.) zum Nachteil von dreizehn Personen (ehemalige Partnerinnen, Freunde, Bekannte) sowie eines Hundes über den Zeitraum 2009 bis 2018 vorgeworfen. Die angeklagten Taten umfassen detailliert beschriebene, grausame Akte wie das Werfen von Nadeln/Pfeilen, Elektroschocks mittels Nadeln und Kurbel, Strangulationen bis zur Bewusstlosigkeit sowie inszenierte Gewaltakte unter Ausnutzung von Phobien der Opfer (u.a. Ertrinken, Dunkelheit, Clowns). Der Beschwerdeführer ist mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen Gewaltdelikten, Widerhandlungen gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz.

2. Prozessgeschichte

Nach seiner Festnahme wurde der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft gesetzt. Mehrere Haftverlängerungsgesuche und Anträge auf Entlassung bzw. Anordnung von Ersatzmassnahmen wurden durch das Zwangsmassnahmengericht (ZMG) des Kantons Waadt und die Strafrechtliche Beschwerdekammer des Kantonsgerichts Waadt abgewiesen. Ab Juli 2022 befand sich der Beschwerdeführer im vorzeitigen Strafvollzug. Er beantragte wiederholt seine Entlassung, zuletzt im Januar 2025 die sofortige Freilassung, allenfalls unter Anordnung von Ersatzmassnahmen. Die Staatsanwaltschaft beantragte im Januar 2025 ebenfalls Ersatzmassnahmen anstelle des vorzeitigen Strafvollzugs, andernfalls dessen Aufrechterhaltung. Das ZMG wies den Antrag auf Anordnung von Ersatzmassnahmen am 10. Februar 2025 ab. Die Strafrechtliche Beschwerdekammer wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers am 25. Februar 2025 ab. Gegen dieses Urteil erhob der Beschwerdeführer Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht.

3. Entscheidungsrelevante Gutachten

Eine zentrale Rolle in der Beurteilung der Haftfrage und der Möglichkeit von Ersatzmassnahmen spielen die psychiatrischen Gutachten: * Die Expertise von Dr. B. und Psychologin C. (2019, ergänzt bis 2022) attestierte dem Beschwerdeführer eine schwere Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und paranoiden Zügen und ein hohes Rückfallrisiko. Empfohlen wurde eine stationäre Behandlung in einem geschlossenen Massnahmenzentrum. * Ein privates Gutachten von Dr. D. (2024) diagnostizierte ebenfalls eine Persönlichkeitsstörung, sah das Hauptproblem aber in multiplen psychoaktiven Substanzabhängigkeiten. Das Rückfallrisiko wurde als "schwach bis mittel" (hauptsächlich bei häuslicher Gewalt) eingeschätzt, ambulante Behandlung als ausreichend zur Risikosenkung angesehen. * Die jüngste Expertise von Dr. E. (Januar 2025) im Auftrag der Staatsanwaltschaft kam zum Schluss, dass der Beschwerdeführer die meisten der ihm vorgeworfenen Taten weiterhin leugne oder minimiere und behaupte, die Anschuldigungen seien unbegründet und das Ergebnis einer gemeinsamen Racheaktion der Betroffenen. Der Beschwerdeführer sei der Meinung, seine bisherige eigenständige Arbeit an sich selbst sei ausreichend, er sei erst nach der Freilassung zu einer Nachbetreuung bereit. Dr. E. schätzte das Rückfallrisiko für ähnliche Taten als "mittel bis hoch" ein. Dieses Risiko liesse sich senken, wenn der Beschwerdeführer sich in eine Behandlung investiere, abstinent bleibe und sich sozial/beruflich integriere; andernfalls erhöhe es sich. Eine stationäre Behandlung sei für den Beschwerdeführer selbst nicht von grossem Vorteil, wohl aber für die öffentliche Sicherheit. Die Behandlung der Persönlichkeitsstörung sei schwierig, der Erfolg ungewiss. Substanzen seien ein erheblicher Risikofaktor.

4. Rügen des Beschwerdeführers vor Bundesgericht und deren Beurteilung

Der Beschwerdeführer machte im Wesentlichen folgende Rügen geltend: * Verletzung des rechtlichen Gehörs / mangelhafte Begründung: Die Vorinstanz habe die Ablehnung der vorgeschlagenen Ersatzmassnahmen, insbesondere des Kontaktverbots, ungenügend begründet und sich auf die Meinung des ZMG beschränkt, ohne die Argumente des Beschwerdeführers zu würdigen. * Beurteilung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht weist diese Rüge ab bzw. erklärt sie für unzulässig. Es stellt fest, dass die Vorinstanz die Ablehnung des Kontaktverbots doch begründet hat, indem sie ausführte, dass dessen Einhaltung von der Kooperationsbereitschaft des Beschwerdeführers abhänge und Verstösse erst ex post festgestellt werden könnten. Dies sei eine ausreichende Begründung. Im Übrigen genüge die allgemeine Behauptung, die Argumente seien nicht analysiert worden, den erhöhten Begründungsanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht. Das Bundesgericht erinnert daran, dass die Vorinstanz auch auf die Begründung des ZMG verweisen dürfe (Art. 82 Abs. 4 StPO). * Willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung / Ungeeignetheit der Ersatzmassnahmen: Die Vorinstanz habe die neuste Expertise von Dr. E. ungenügend berücksichtigt und sei willkürlich zum Schluss gekommen, dass keine der vorgeschlagenen Ersatzmassnahmen (wöchentliche psychiatrische/suchttherapeutische Behandlung, zweiwöchentliche Abstinenzkontrollen, Bewährungshilfe, Kontaktverbot zu Opfern/Mitbeschuldigten, Wohnsitz beim Vater) das Rückfallrisiko bannen könne. * Beurteilung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht erklärt die meisten diesbezüglichen Rügen des Beschwerdeführers für unzulässig oder weist sie ab. Es hält fest, dass das Bundesgericht keine Appellationsinstanz sei und an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden sei, sofern diese nicht willkürlich seien (Art. 9 BGG, Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 1 BGG). Eine willkürliche Beweiswürdigung liege nur vor, wenn die Behörde ein Beweismittel ohne ernsthaften Grund nicht berücksichtige, dessen Tragweite offensichtlich verkenne oder gestützt auf die erhobenen Beweise unhaltbare Schlüsse ziehe. Die weitgehend appellatorischen Ausführungen des Beschwerdeführers, die eigene Würdigungen der Beweise oder Tatsachen, die nicht aus dem angefochtenen Urteil hervorgehen, enthalten, seien unzulässig (z.B. positive Drogentests, deterrenter Effekt der Haftdauer, Beurteilung der Beziehung zum Vater).

5. Begründung des Bundesgerichts zur Ablehnung von Ersatzmassnahmen

Das Bundesgericht schützt die Argumentation der Vorinstanz und des ZMG und bestätigt, dass keine der vorgeschlagenen Ersatzmassnahmen geeignet sei, das festgestellte Rückfallrisiko zu bannen und denselben Zweck wie die Haft zu erfüllen (Art. 237 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 36 Abs. 3 BV - Verhältnismässigkeit).

Die zentrale Argumentation des Gerichts lässt sich wie folgt zusammenfassen und vertiefen:

  • Festgestelltes Rückfallrisiko: Gestützt auf die neuste Expertise von Dr. E. wurde ein "mittel bis hohes" Risiko für die Begehung ähnlicher Taten festgestellt. Angesichts der ausserordentlichen Schwere und Grausamkeit der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte (u.a. schwere Körperverletzungen, Gefährdung des Lebens, Freiheitsberaubung, auch gegenüber Minderjährigen), ist ein mittel bis hohes Risiko als gravierend einzustufen.
  • Abhängigkeit der Risikominimierung von der Kooperation des Beschwerdeführers: Die Experten gehen davon aus, dass sich das Rückfallrisiko verbessert, wenn der Beschwerdeführer sich in die vorgeschlagenen Massnahmen investiert, abstinent bleibt etc. Das Gericht betont jedoch, dass es hier nicht darum geht, ob die Massnahmen grundsätzlich geeignet wären, das Risiko zu senken, sondern darum, ob der Beschwerdeführer die angeordneten Massnahmen tatsächlich befolgen und sich aktiv daran beteiligen würde.
  • Zweifel an der Kooperationsbereitschaft: Genau hierin sah das Gericht (wie die Vorinstanz und das ZMG) das Problem. Gestützt auf die Expertisen (Dr. E., SMPP-Bericht vom November 2024) und das Verhalten des Beschwerdeführers in der Haft bestanden erhebliche Zweifel an seiner tatsächlichen Absicht, sich verbindlich auf die Massnahmen einzulassen.
    • Der Beschwerdeführer leugnet oder minimiert weiterhin die meisten der ihm vorgeworfenen, schwerwiegenden Taten.
    • Er ist der festen Überzeugung, Opfer einer Racheaktion zu sein.
    • Er ist der Meinung, die selbständig geleistete "Arbeit an sich" reiche vorerst aus und er sei erst nach der Freilassung zu einem Follow-up bereit.
    • Er hat während der langjährigen Haft keine psychotherapeutische oder Suchtbehandlung in Anspruch genommen oder sich nur sehr teilweise auf Angebote eingelassen (gemäss SMPP-Bericht).
    • Seine Einsichtsfähigkeit und Empathie gegenüber den Opfern ist nach wie vor sehr beschränkt.
    • Die Behandlung seiner Persönlichkeitsstörung wird als schwierig eingeschätzt, deren Erfolg ist ungewiss. Diese Punkte, insbesondere die weitgehende Leugnung der Taten und die mangelnde Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Behandlung in der Haft, begründen für das Gericht erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Befolgung der Massnahmen im Falle einer Freilassung.
  • Unzureichende Kontrollmöglichkeiten der Ersatzmassnahmen: Das Gericht hält fest, dass alle vorgeschlagenen Ersatzmassnahmen (Therapieauflage, Abstinenzkontrollen, Bewährungshilfe, Kontaktverbot) letztlich von der Kooperationsbereitschaft des Beschwerdeführers abhängig sind. Eine Verletzung dieser Auflagen könnte im Wesentlichen nur ex post, also nach deren Nichteinhaltung oder einem Rückfall, festgestellt werden. Angesichts der Schwere der potenziellen Folgetaten und des mittel bis hohen Risikos sei es unverantwortlich, dieses Risiko einzugehen. Die vorgeschlagenen Massnahmen bieten somit nicht die gleiche Gewähr für die öffentliche Sicherheit wie die Haft. Dies entspricht der ständigen Praxis des Bundesgerichts: Ersatzmassnahmen sind nur anzuordnen, wenn sie gleich geeignet sind, den Haftgrund zu bannen, hier die erhebliche Rückfallgefahr (vgl. dazu bspw. ATF 145 IV 503 E. 3.1, wo die Kriterien für die Gleichwertigkeit von Ersatzmassnahmen dargelegt werden). Bei schwerwiegenden Delikten und hohem Rückfallrisiko sind die Anforderungen an die Eignung von Ersatzmassnahmen, die primär auf Kooperation basieren, entsprechend hoch.
  • Wohnsitz beim Vater: Auch die vorgeschlagene Wohnsitznahme beim Vater wird kritisch gesehen, da die Expertise (Dr. E.) von sehr konfliktbeladenen, teils gewalttätigen Beziehungen zwischen Vater und Sohn berichte. Es sei nicht ersichtlich, wie diese Massnahme das Rückfallrisiko bannen sollte.
  • Dauer der Haft: Die Dauer der bisherigen Haft erscheint dem Gericht angesichts der Schwere der Vorwürfe und der Komplexität des Falles nicht als unverhältmässig, zumal die Anklageerhebung unmittelbar bevorstehe.

6. Fazit zur Hauptfrage

Das Bundesgericht bestätigt, dass die Vorinstanz ohne Verletzung von Bundesrecht (insb. Willkür und Verhältnismässigkeitsprinzip gemäss Art. 9 und Art. 36 Abs. 3 BV i.V.m. Art. 237 StPO) zum Schluss kommen durfte, dass im vorliegenden Fall keine der vorgeschlagenen Ersatzmassnahmen geeignet ist, die erhebliche Rückfallgefahr effektiv zu bannen und die öffentliche Sicherheit im gleichen Masse zu gewährleisten wie die Fortsetzung der Haft (resp. des vorzeitigen Strafvollzugs). Die mangelnde Einsicht des Beschwerdeführers, seine Tendenz zur Leugnung der Taten, die geringe Kooperationsbereitschaft bei Behandlungsangeboten in der Haft und die Schwierigkeit, die Einhaltung der vorgeschlagenen Massnahmen effektiv präventiv zu kontrollieren, rechtfertigen die Ablehnung von Ersatzmassnahmen.

7. Nebenpunkte

Die weiteren Nebenanträge (unzulässige Rügen zum Rückfallrisiko, ungenügend begründete Rügen zur Beweiswürdigung) wurden abgewiesen oder als unzulässig beurteilt. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde mangels Erfolgsaussichten der Beschwerde abgewiesen. Die Gerichtskosten wurden dem unterlegenen Beschwerdeführer auferlegt, wobei dessen finanzielle Verhältnisse berücksichtigt wurden.

8. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hat die Beschwerde gegen die Ablehnung von Ersatzmassnahmen anstelle der Haft abgewiesen. Es bestätigte das Vorliegen einer mittel bis hohen Rückfallgefahr für schwere Gewaltdelikte gestützt auf Expertisen. Die vorgeschlagenen Ersatzmassnahmen (Therapie, Kontrollen, Bewährungshilfe, Kontaktverbot, Wohnsitznahme) wurden als ungeeignet zur Bannung dieser Gefahr eingestuft. Die wesentlichen Gründe hierfür waren die mangelnde Einsicht und Kooperationsbereitschaft des Beschwerdeführers (Leugnung der Taten, Ablehnung von Behandlung in Haft) sowie die Tatsache, dass die vorgeschlagenen Massnahmen primär auf seiner Kooperation beruhen und Verstösse nur ex post festgestellt werden könnten, was angesichts der Schwere der drohenden Taten und des Rückfallrisikos unzureichend ist. Die Fortsetzung der Haft (oder des vorzeitigen Strafvollzugs) bleibt somit verhältnismässig.