Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_82/2024 vom 5. Mai 2025:
Bundesgericht, Urteil 6B_82/2024 vom 5. Mai 2025
Rubrum:
* Gericht: Schweizerisches Bundesgericht
* Abteilung: I. strafrechtliche Abteilung
* Besetzung: Muschietti (präsidierend), von Felten, Wohlhauser
* Verfahrensbeteiligte: A.A.__ (Beschwerdeführer) gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Beschwerdegegnerin)
* Gegenstand: Versuchte vorsätzliche Tötung, Landesverweisung; Verwertbarkeit der ersten Einvernahmen, Anrechnung von Ersatzmassnahmen.
* Vorinstanz: Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, Entscheid vom 22. September 2023 (ST.2021.86-SK3)
Sachverhalt (Zusammenfassung):
Dem Beschwerdeführer A.A._ wurde vorgeworfen, am 7. November 2019 seine Tochter B.A._ im Rahmen eines Familienstreits gewürgt und dadurch in akute Lebensgefahr gebracht zu haben. Das Kreisgericht St. Gallen verurteilte ihn wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren, rechnete Untersuchungshaft und Ersatzmassnahmen an und ordnete eine Landesverweisung von zehn Jahren an. Das Kantonsgericht St. Gallen wies die Berufung des Beschwerdeführers ab und bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Der Beschwerdeführer focht dieses Urteil vor Bundesgericht an, beantragte Freispruch, Genugtuung/Entschädigung und sinngemäss den Verzicht auf die Landesverweisung, eventualiter Rückweisung zur Neubeurteilung, insbesondere zur Anrechnung von Ersatzmassnahmen.
Massgebende Punkte und rechtliche Argumente des Bundesgerichts:
Das Bundesgericht prüfte im Wesentlichen drei Hauptpunkte, die vom Beschwerdeführer aufgeworfen wurden:
1. Die Verwertbarkeit der ersten polizeilichen Einvernahmen.
2. Die Rechtmässigkeit der angeordneten Landesverweisung.
3. Die Frage der Anrechnung von Ersatzmassnahmen auf die Freiheitsstrafe.
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1. Verwertbarkeit der ersten Einvernahmen (Erw. 2):
- Rüge des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer machte geltend, seine erste Einvernahme sowie die der Geschädigten (Tochter), deren Schwester und deren Mutter in der Tatnacht seien unverwertbar. Neben bereits kantonal gerügten Punkten (Verletzung des Teilnahmerechts bei Einvernahme der anderen, fehlende notwendige Verteidigung bei seiner eigenen Einvernahme – letztere wurde von der Vorinstanz auch als unverwertbar erachtet und war daher vor Bundesgericht unbestritten) rügte er neu, die Einvernahmen seien mangels hinreichenden Tatvorhalts (Information über den Gegenstand und die Vorwürfe des Verfahrens gemäss Art. 158 i.V.m. Art. 143 StPO) absolut unverwertbar.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht trat auf diese spezifische Rüge der Unverwertbarkeit mangels hinreichenden Tatvorhalts (für die Einvernahmen der Geschädigten, deren Schwester und Mutter) nicht ein. Die Begründung dafür ist zweistufig:
- Neue Rüge ohne Sachverhaltsbasis: Die Rüge wurde erstmals vor Bundesgericht erhoben. Zwar sind neue Rechtsrügen grundsätzlich zulässig (Art. 99 Abs. 1 BGG), wenn sie auf dem vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt beruhen. Die Vorinstanz hatte sich jedoch nicht mit der Frage des hinreichenden Tatvorhalts an die Geschädigte und die Zeuginnen befasst und dementsprechend keine tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen, wie diese Personen über den Verfahrensgegenstand informiert wurden. Da die Rüge des Beschwerdeführers somit nicht auf dem im vorinstanzlichen Urteil verbindlich festgestellten Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG) basierte und er auch keine zulässigen Noven (neue Tatsachen/Beweismittel gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG) geltend machte, konnte das Bundesgericht darauf nicht eintreten.
- Fehlende Legitimation zur Geltendmachung von Rechten Dritter: Ergänzend wies das Bundesgericht darauf hin, dass dem Beschwerdeführer als beschuldigte Person nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich nicht zusteht, Vorschriften, die dem Schutz anderer Verfahrensbeteiligter (wie Auskunftspersonen, Geschädigte) dienen (hier die Information über den Tatvorhalt gemäss Art. 143/158 StPO), in deren Namen als verletzt anzurufen und gestützt darauf die Unverwertbarkeit ihrer Einvernahmen geltend zu machen. Diese Regeln schützen primär die befragten Personen selbst. Der Beschwerdeführer legte nicht dar, inwiefern seine eigenen Rechte durch die angeblich unzureichende Information der anderen Verfahrensbeteiligten verletzt wurden, und dies war auch nicht ersichtlich. Das Bundesgericht verwies auf jüngste Rechtsprechung (Urteile 6B_926/2023, 1B_130/2022, 6B_22/2022, 6B_269/2018), die diese Haltung bestätigt.
- Da auf die Rüge der Unverwertbarkeit mangels Tatvorhalts nicht eingetreten wurde und der Beschwerdeführer die vorinstanzliche Einschätzung, wonach die Einvernahmen der Geschädigten und deren Mutter aus anderen Gründen (z.B. Beschränkung der Parteiöffentlichkeit) verwertbar seien, nicht ausreichend angefochten hatte, blieb es bei der Verwertbarkeit dieser Aussagen. Die darauf basierende Rüge der Unverwertbarkeit von Folgebeweisen wurde ebenfalls abgewiesen oder nicht vertieft geprüft, da sie wesentlich von der Unverwertbarkeit der Basisaussagen abhing.
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2. Landesverweisung (Erw. 3):
- Grundlagen: Da der Beschwerdeführer wegen versuchter vorsätzlicher Tötung verurteilt wurde (Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB), erfüllt er grundsätzlich die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. a StGB. Von der Landesverweisung kann nur ausnahmsweise abgesehen werden, wenn ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen (Art. 66a Abs. 2 StGB; Härtefallklausel). Das Bundesgericht verwies auf seine etablierte Rechtsprechung zu den Kriterien des Härtefalls und der Interessenabwägung (BGE 146 IV 105, 144 IV 332) sowie zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK).
- Begründung der Vorinstanz (zusammengefasst vom BGer): Die Vorinstanz verneinte das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls. Sie würdigte die Biografie des Beschwerdeführers (seit 1999 in der Schweiz, aber über Hälfte des Lebens in Heimat, gebrochen Deutsch), seine mässige wirtschaftliche Integration (nicht erwerbstätig, Suva-Leistungen), seine bescheidene persönliche/soziale Integration und seine familiäre Situation. Letztere sei nicht intakt (geschieden, minderjähriger Sohn lebt bei der Mutter, zerrüttetes Verhältnis zur Ex-Frau, unregelmässige/spärliche Kontakte zum Sohn ohne Übernachtungen/intensive Bindung). Eine künftige Haftstrafe werde den Kontakt weiter erschweren. Die Landesverweisung führe nicht zur Trennung einer intakten Familie und stelle daher keinen Eingriff in Art. 8 EMRK dar. Die Eingliederung im Heimatland (Serbien/Kosovo) sei trotz Hürden möglich (Sprach- und Kulturkenntnisse, Eltern/Verwandte im Kosovo). Auch die Interessenabwägung hätte gemäss Vorinstanz nicht zum Verzicht auf die Landesverweisung geführt, da die öffentlichen Interessen (Schwere des Delikts, erhebliche Gefahr für öffentliche Sicherheit und Ordnung, bestätigte Rückfallgefahr im familiären Kontext, fehlende Reue) hoch seien und die privaten Interessen (Wunsch, Nähe zum Sohn zu leben, wobei Kontakte spärlich sind und nach Haftentlassung mittels moderner Mittel/Besuchen gepflegt werden könnten) geringer wiegen.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht trat auf die Rüge des Beschwerdeführers gegen die Landesverweisung ebenfalls nicht ein. Der Beschwerdeführer beschränkte sich in seiner Beschwerde darauf, die vorinstanzliche eventualiter erfolgte Interessenabwägung zu kritisieren (z.B. unzureichende Kontaktmöglichkeiten zum Sohn nach der Landesverweisung). Er setzte sich jedoch nicht mit der primären und ausführlichen Begründung der Vorinstanz auseinander, die das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls verneinte, indem sie seine Integration, seine familiäre Situation etc. würdigte. Dieses Fehlen einer Auseinandersetzung mit der tragenden Begründung der Vorinstanz erfüllt die qualifizierten Begründungsanforderungen gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG nicht. Seine Behauptung, er pflege regelmässig Kontakt zu seinem Sohn, wich zudem vom vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt ab, ohne dass er darlegte, dass die vorinstanzliche Feststellung (unregelmässiger Kontakt) willkürlich (Art. 9 BV) wäre (erhöhte Begründungsanforderungen gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG). Selbst wenn seine Rügen zur Interessenabwägung erfolgreich wären, bliebe die (unzureichend angefochtene) Verneinung des schweren persönlichen Härtefalls bestehen, was bereits zum Verzicht auf die Härtefallklausel führt.
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3. Anrechnung von Ersatzmassnahmen (Erw. 4):
- Rüge des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer beantragte (eventualiter für den Fall einer Rückweisung), die anstelle der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft angeordneten Ersatzmassnahmen von insgesamt 1'373 Tagen (ab Dezember 2019) seien angemessen, d.h. zu mindestens einem Drittel, an die Freiheitsstrafe anzurechnen.
- Grundlagen: Ersatzmassnahmen sind gemäss Rechtsprechung in analoger Anwendung von Art. 51 StGB (Anrechnung Untersuchungshaft) auf die Freiheitsstrafe anzurechnen, wobei der Grad der Freiheitseinschränkung zu berücksichtigen ist und dem Gericht ein erheblicher Ermessensspielraum zukommt (BGE 140 IV 74).
- Begründung der Vorinstanz: Die Vorinstanz rechnete die Ersatzmassnahmen im Umfang von 155 Tagen an, in Übereinstimmung mit dem erstinstanzlichen Urteil (wobei das Verschlechterungsverbot auf Berufung des Angeklagten griff). Sie argumentierte, die Massnahmen (Kontaktverbot zur Ex-Frau/Geschädigten, Verbot des Zusammenwohnens mit der Familie) seien nicht als "einigermassen einschneidend" zu qualifizieren. Das Familienverhältnis sei seit langem zerrüttet, mittlerweile geschieden. Ein eigentliches Familienleben oder regelmässige persönliche Kontakte zur Geschädigten und deren Mutter wären auch ohne die Ersatzmassnahmen kaum möglich gewesen.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht hielt die Rüge für unbegründet, soweit darauf eingetreten werden konnte. Der Beschwerdeführer legte seine Sicht der Dinge in einer appellatorischen Weise dar, setzte sich jedoch nicht mit den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz zu den Familienverhältnissen auseinander. Er bezeichnete diese Feststellungen als falsch, zeigte aber nicht auf, dass diese willkürlich wären, was für eine Anfechtung der Sachverhaltsfeststellung erforderlich wäre (Art. 42 Abs. 2, 106 Abs. 2 BGG). Angesichts der für das Bundesgericht verbindlichen vorinstanzlichen Feststellung, dass das Familienverhältnis zerrüttet war und ein Zusammenleben/regelmässige Kontakte auch ohne die Massnahmen kaum möglich waren, erschien die vorinstanzliche Einschätzung, wonach die Massnahmen nicht besonders einschneidend waren und somit nur im Umfang von 155 Tagen angerechnet werden (gestützt auf das Verschlechterungsverbot), zwar als streng, lag aber noch innerhalb des weiten Ermessens des Gerichts.
Endgültiger Entscheid:
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wurde.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht trat auf mehrere zentrale Rügen des Beschwerdeführers nicht ein oder wies sie ab:
* Die Rüge der Unverwertbarkeit von Einvernahmen mangels hinreichenden Tatvorhalts wurde als neue Rüge ohne Basis im vorinstanzlichen Sachverhalt und mangels Legitimation des Beschwerdeführers zur Geltendmachung von Rechten Dritter abgewiesen.
* Die Rüge gegen die Landesverweisung wurde abgewiesen, da der Beschwerdeführer die entscheidende vorinstanzliche Begründung, wonach kein schwerer persönlicher Härtefall vorliege, nicht substanziiert angefochten hatte.
* Die Rüge betreffend die unzureichende Anrechnung von Ersatzmassnahmen wurde als unbegründet erachtet, da die vorinstanzliche Einschätzung, die Massnahmen seien aufgrund der bereits zerrütteten Familienverhältnisse nicht besonders einschneidend gewesen und die Anrechnung liege im Ermessen des Gerichts, nicht willkürlich war und der Beschwerdeführer die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nicht gehörig angefochten hatte.
* Ein neues Begehren betreffend Kinderverfahrensvertretung wurde als unzulässig abgewiesen.
* Entsprechend wurden die Anträge auf Freispruch, Genugtuung/Entschädigung und Verzicht auf Landesverweisung abgewiesen.
* Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde wegen Aussichtslosigkeit abgewiesen, dem Beschwerdeführer wurden reduzierte Gerichtskosten auferlegt.