Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_339/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 2. Juni 2025:
1. Ausgangslage und Vorinstanzen
Das Urteil des Bundesgerichts betrifft die Frage der anzuordnenden Massnahme bei einem Täter, der unter einer schweren psychischen Störung leidet und rückfällig geworden ist.
- Das Tribunal correctionnel de l'arrondissement de La Côte verurteilte den Beschuldigten A.__ wegen Nötigung, sexueller Handlungen mit Kindern und Pornografie zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten. Es ordnete zusätzlich eine stationäre therapeutische Massnahme (Art. 59 StGB) an und diverse Verbote (Kontakt-, Rayon-, Tätigkeitsverbot).
- Die Cour d'appel pénale du Tribunal cantonal du canton de Vaud hiess die Berufung von A.__ teilweise gut und änderte das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts im Punkt der Massnahme: Sie ordnete eine ambulante Behandlung (Art. 63 StGB) anstelle der stationären Massnahme an. Im Übrigen bestätigte sie das Urteil.
Gegen das Urteil der Cour d'appel legt die Ministère public central du canton de Vaud Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein. Die Staatsanwaltschaft beantragt primär die Aufhebung des Berufungsurteils bezüglich der Massnahme und die Anordnung einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB, eventuell die Rückweisung an die Vorinstanz.
2. Sachverhalt (Relevante Auszüge für die Massnahmenfrage)
Der Beschuldigte, Jg. 1978, wies eine Vorgeschichte auf, darunter Verurteilungen im Jahr 2014 (wegen Ehrverletzung, Nötigung, missbräuchliche Verwendung einer Fernmeldeanlage) und im Jahr 2019 (u.a. wegen missbräuchliche Verwendung einer Fernmeldeanlage, Besitz von Hardcore-Pornografie, Drohung, Gewalt oder Drohung gegen Behörden/Beamte, Nötigung). Die Verurteilung von 2019 führte zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten. Im Zusammenhang mit dieser Strafe wurde 2019 bereits eine ambulante Behandlung nach Art. 63 StGB angeordnet. Die bedingte Entlassung aus dieser Strafe wurde 2020 (nicht im Urteil genannt, aber aus Chronologie ersichtlich) verweigert, u.a. wegen mangelnder Einsicht und hohem Rückfallrisiko. Die 2019 angeordnete ambulante Behandlung wurde per richterliche Anordnung bis zum Abschluss des vorliegenden Verfahrens verlängert.
Die dem aktuellen Urteil zugrunde liegenden Taten umfassen:
- Sexuelle Handlungen mit Kindern und Pornografie: Im Dezember 2022 hat der Beschuldigte über eine Chat-App (F.__) sexuell explizite Gespräche mit Kindern im Alter von 12-15 Jahren geführt, ihnen Nacktfotos geschickt, von ihnen Nacktfotos erhalten und sie zur Selbstbefriedigung angeleitet. Er hat die Kommunikation gespeichert.
- Nötigung (gegenüber einer Nachbarin B.__): Zwischen Mai 2020 und Januar 2023 belästigte der Beschuldigte seine Nachbarin obsessiv, anfänglich durch Nachrichten, dann intensiviert durch tägliche Belästigung. Er schickte zahlreiche (über 500 SMS) Nachrichten, teils mit sexuellem oder sentimentalem Inhalt, teils aggressive oder "fantastische" Anschuldigungen. Er spionierte sie aus seiner Wohnung aus, machte Fotos ihrer Terrasse/Wohnung und schickte sie ihr, begab sich zu ihrer Wohnung, hinterliess handschriftliche Briefe, eine Kopie seiner Anzeige gegen sie, einen Wohnungsschlüssel, zweimal CHF 100 und eine Notiz an ihrer Tür. Dieses Verhalten entfaltete sich trotz wiederholter Aufforderungen der Nachbarin, den Kontakt einzustellen, und führte bei ihr zu psychischem Leid, Sicherheitsmassnahmen (Verdunklungsvorhänge, Türe abschliessen, reduzierte Terrassenbenutzung) und Umzugswunsch. Der Beschuldigte reichte sogar juristische Schritte ein (Anzeigen, Rücknahme der Anzeige mit detaillierten sexuellen Fantasien, erneute Bestätigung der Anzeige) und gab an, sie zu überwachen.
Psychiatrische Expertise:
Im Rahmen des Verfahrens wurde ein psychiatrisches Gutachten (Prof. G._, Dr. H._, Juli 2023, und Ergänzung Nov 2023) eingeholt.
* Diagnose: Persistierende wahnhafte Störung (schwere psychische Störung), multiple Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilie-Problematik, u.a. Voyeurismus, Urolagnie). Der Zustand wurde als schwere chronische psychische Störung eingestuft, die derzeit nicht heilbar ist.
* Zusammenhang mit Taten: Die Störungen bestanden bereits zur Tatzeit und beeinflussten die Schuldfähigkeit (mittelgradig bei Nötigung, leichtgradig bei sexuellen Handlungen).
* Rückfallgefahr: Hoch für sexuelle Delikte und Gewalttaten.
* Behandlung: Empfohlen wurde eine ambulante psychiatrische Behandlung bei einem forensisch spezialisierten Therapeuten unter gerichtlicher Anweisung (Art. 63 StGB) auf unbestimmte Zeit, um das Rückfallrisiko zu begrenzen. Der Erfolg hänge vom "Investment" (Kooperation) des Beschuldigten ab. Frühere Therapeuten berichteten von oberflächlichem Diskurs, sexuelle Aspekte wurden kaum/nicht angesprochen.
* Stationäre Behandlung (Art. 59 StGB): Die Experten waren der Ansicht, eine stationäre Massnahme brächte keinen "Mehrwert" für die Wirksamkeit der Behandlung und gewährleiste keine besseren Ergebnisse. Der Zwangscharakter könnte die Verfolgungserlebnisse des Beschuldigten sogar verstärken.
Verhalten des Beschuldigten gegenüber Behandlung:
Laut Vorinstanzen und Expertenberichten zeigte sich der Beschuldigte während der Begutachtung kooperativ, sein Diskurs sei jedoch oberflächlich geblieben. An den erstinstanzlichen und Berufungsverhandlungen verweigerte er jedoch jegliche therapeutische Behandlung und Medikation. Er bestritt, an einer Störung zu leiden und behauptete, die Gutachten seien gefälscht. Er gab an, eine Therapie sei unnötig, da es einen Therapeuten in seiner Familie gebe. Er lehnte die von den Experten empfohlene antipsychotische Medikation kategorisch ab.
3. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüft die Massnahmenanordnung unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen und der eigenen Rechtsprechung.
- Gesetzliche Grundlagen (Art. 59, 63, 56, 56a StGB): Das Gericht rekapituliert die Voraussetzungen für die stationäre (Art. 59 StGB) und die ambulante (Art. 63 StGB) Massnahme. Für beide ist erforderlich, dass eine Tat in Zusammenhang mit der Störung steht und dass die Massnahme voraussichtlich vom Begehen weiterer Delikte in Zusammenhang mit der Störung abhalten wird (Prognose). Bei Art. 59 StGB ist die Voraussetzung, dass die Massnahme voraussichtlich zu einer deutlichen Senkung des Rückfallrisikos innerhalb ihrer Regeldauer führt.
- Kooperation bei stationärer Massnahme: Wichtig ist die Rechtsprechung, dass bei einer stationären Massnahme (Art. 59 StGB) keine übermässig hohen Anforderungen an die Kooperationsbereitschaft gestellt werden dürfen. Die Fähigkeit, die Notwendigkeit einer Behandlung zu erkennen, kann gerade aufgrund der psychischen Störung fehlen. Ein Behandlungsziel ist oft, Bewusstsein und Behandlungswillen erst in der stationären Massnahme zu wecken. Entscheidend ist eine minimale Motivierbarkeit. Die kategorische Ablehnung einer Massnahme durch den Betroffenen ist kein Hinderungsgrund; die Entscheidung basiert auf objektiven Kriterien (Zustand, Wirkung der Massnahme auf Risiko).
- Verhältnismässigkeit und Subsidiarität (Art. 56 Abs. 2, 56a StGB): Jede grundrechtsbeschränkende Massnahme muss verhältnismässig sein (Geeignetheit, Erforderlichkeit/Subsidiarität, Verhältnismässigkeit im engeren Sinn). Ist eine weniger einschneidende Massnahme gleich geeignet, so ist diese anzuordnen. Die Einschätzung der Verhältnismässigkeit ist eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei prüft.
- Expertise (Art. 56 Abs. 3 StGB): Der Richter stützt sich auf die Expertise, ist aber nicht daran gebunden. Er darf nur davon abweichen, wenn wichtige, gut begründete Umstände die Glaubwürdigkeit ernsthaft erschüttern. Ist die Expertise in wesentlichen Punkten zweifelhaft, muss der Richter ergänzende Beweise einholen oder eine ergänzende Expertise anordnen (Art. 189 Bst. a StPO).
- In dubio pro reo: Dieser Grundsatz gilt nicht für die Rückfallprognose.
4. Beurteilung der Vorinstanz durch das Bundesgericht
Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Vorinstanz die stationäre Massnahme zu Unrecht verworfen hat:
- Eignung der Massnahme (1.3.1): Die Vorinstanz hat Art. 59 StGB zu Unrecht abgelehnt, weil die Experten meinten, eine stationäre Massnahme bringe "aus rein psychiatrischer Sicht" keinen Mehrwert. Dies bedeute nicht, dass die Massnahme zur Verhinderung von Rückfällen ungeeignet sei. Auch eine ambulante Massnahme setze voraus, dass sie voraussichtlich vom Rückfall abhalten könne. Die blosse Befürchtung, eine stationäre Massnahme könne die Verfolgungserlebnisse verstärken, genüge nicht, Art. 59 StGB auszuschliessen, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Beide Massnahmen erscheinen geeignet, die Legalprognose zu verbessern.
- Ungenügende ambulante Behandlung (1.3.2): Zivilrechtliche Massnahmen sind kein Ersatz für strafrechtliche Massnahmen. Der Beschuldigte leidet unter einer schweren Störung, Anosognosie (Krankheitseinsicht fehlt) und hat ein hohes Rückfallrisiko (sexuelle Delikte, Gewalt). Er hat seine Nachbarin trotz zwei früherer Verurteilungen über zwei Jahre belästigt. Er hat neben Nötigung auch Delikte gegen die sexuelle Integrität von Kindern begangen, was eine besorgniserregende Entwicklung zeigt. Die bedingte Entlassung wurde ihm schon früher wegen mangelnder Einsicht und hohem Rückfallrisiko verweigert. Der Beschuldigte zeigt weiterhin keine Einsicht. Er ist nur wenige Monate nach seiner Entlassung während laufender ambulanter Behandlung erneut rückfällig geworden. Die seit 2019 laufende ambulante Behandlung hat offensichtlich nicht ausgereicht, die Störungen genügend zu verbessern, um Rückfälle zu verhindern. Auch wenn der Beschuldigte regelmässig an Therapiesitzungen teilnahm, war seine Teilnahme laut Gutachten oberflächlich, und er hat seinen Therapeuten seine Taten (insbesondere gegenüber der Nachbarin) verschwiegen. Die Vorinstanz hat zu Unrecht argumentiert, es sei nur eine Psychotherapie und keine Medikation versucht worden; der Beschuldigte lehnt jegliche Medikation kategorisch ab.
- Verweigerung jeglicher Behandlung und Medikation (1.3.3): Der Beschuldigte verweigert nicht nur die Medikation, sondern jegliche Form der Therapie, indem er die Existenz seiner Störungen leugnet. Er ist der Meinung, "keine Medikation zu brauchen" und dass ein "Therapeut in der Familie" ausreiche. Eine ambulante Behandlung setzt aber Kooperation und ein Mindestmass an Investment voraus, was hier fehlt. Weder das Gutachten noch dessen Ergänzung haben die konkrete Weigerung des Beschuldigten, sich einer ambulanten Behandlung zu unterziehen, genügend berücksichtigt. Die Expertin hatte erstinstanzlich sogar eine Ergänzung der Expertise unter diesem Gesichtspunkt angeregt. Diese klare Ablehnung jeder Behandlung, zusammen mit der Ineffizienz der früheren ambulanten Behandlung und der Kommission neuer Delikttypen, zeigt die Unwirksamkeit der bisherigen Massnahme.
- Förderung der Kooperation in stationärer Massnahme (1.3.4): Bei der stationären Massnahme ist die Motivation des Betroffenen kein zwingendes Vorerfordernis, sondern gerade ein Behandlungsziel. Weder die Experten noch die Vorinstanz haben geprüft, ob eine schrittweise Adhärenz zu einer stationären Behandlung möglich wäre. Das Argument, der Beschuldigte werde Medikation in Haft verweigern, ist ebenfalls schwach, da die stationäre Massnahme gerade dazu dient, Bewusstsein und Behandlungswillen (auch für Medikation) zu fördern.
- Unvollständigkeit der Expertise und des Urteils (1.3.5): Die Expertise und das Urteil sind auf diesen entscheidenden Punkten unvollständig geblieben.
5. Entscheid des Bundesgerichts
Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Weigerung des Beschuldigten, sich behandeln zu lassen, ein entscheidendes Element darstellt, das in der Expertise und vom Berufungsgericht nicht ausreichend gewürdigt wurde.
- Ein Komplementärgutachten muss eingeholt werden, um zu beurteilen, ob eine ambulante Behandlung trotz der Verweigerung durch den Beschuldigten noch realisierbar und sinnvoll ist oder ob stattdessen eine stationäre Massnahme erforderlich erscheint.
- Die Vorinstanz hat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Motivierbarkeit in der stationären Massnahme erneut zu prüfen, ob angesichts des hohen Rückfallrisikos für sexuelle Delikte und Gewalttaten ein institutioneller Rahmen notwendig ist, um eine effektive Behandlung (einschliesslich der empfohlenen Medikation) zu gewährleisten.
Daher wird die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gutgeheissen. Das Urteil der Vorinstanz wird aufgehoben, soweit es eine ambulante Behandlung anordnet, und die Sache wird zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
6. Nebensächliche Punkte
- Die Frage der Zulässigkeit und des Eintretens wurde nicht vertieft behandelt und ist für das Ergebnis nicht zentral.
- Die Kostenfolgen ergeben sich direkt aus dem Ausgang des Verfahrens: Die Staatsanwaltschaft als obsiegende Partei hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung. Dem unterliegenden Beschuldigten wird aufgrund seiner Rechtsverweigerungshaftbefugten Anwalt eine Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse zugesprochen. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
- Der Antrag auf provisorische Massnahmen (Haft) wird hinfällig, da über die Hauptsache entschieden wurde.
7. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht hat das Urteil der kantonalen Berufungsinstanz aufgehoben, welches eine ambulante Massnahme anstelle einer stationären anordnete. Die Aufhebung erfolgte, weil das Gericht die Auswirkungen der hartnäckigen Behandlungs- und Medikationsverweigerung des schwer psychisch kranken und einschlägig vorbestraften Täters nicht ausreichend berücksichtigt hatte. Die Vorinstanz hatte sich auf eine Expertise gestützt, die der stationären Massnahme keinen "rein psychiatrischen Mehrwert" attestierte, was das Bundesgericht als zu eng gefasst erachtete, da die Verhinderung von Rückfällen das primäre Ziel sei. Angesichts des hohen Rückfallrisikos und der fehlenden Einsicht sowie Kooperation des Täters, die eine ambulante Behandlung in Frage stellen, hätte die Expertise bzw. die Vorinstanz prüfen müssen, ob eine stationäre Massnahme nicht dennoch erforderlich sei, da sie die Möglichkeit bietet, die Motivation zur Behandlung erst zu entwickeln. Die Sache wird zur Einholung eines ergänzenden Gutachtens und neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.