Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des bereitgestellten Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_358/2025 vom 28. Mai 2025:
1. Einleitung und Gegenstand
Das Urteil des Bundesgerichts (II. strafrechtliche Abteilung) mit der Nummer 7B_358/2025 vom 28. Mai 2025 befasst sich mit der Frage der Sicherheitshaft im Berufungsverfahren bei einem selbstständigen nachträglichen Entscheid des Gerichts. Konkret ging es um die vom Präsidenten des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt angeordnete Verlängerung der Sicherheitshaft gegen den Beschwerdeführer, A.__, während das Appellationsgericht über dessen Berufung gegen die erstinstanzliche Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme (Art. 363 ff. StPO) entschied.
2. Sachverhaltliche Ausgangslage
Gegen den Beschwerdeführer lief ein selbstständiges nachträgliches Verfahren betreffend die Verlängerung einer am 18. Dezember 2017 angeordneten und am 13. Dezember 2022 erstmals verlängerten stationären therapeutischen Massnahme. Das Strafgericht Basel-Stadt verlängerte diese Massnahme mit Urteil vom 26. November 2024 um weitere 18 Monate. Gleichzeitig ordnete es mit separatem Beschluss Sicherheitshaft bis zum 16. März 2025 an. Gegen das Massnahmenverlängerungsurteil erhob der Beschwerdeführer Berufung beim Appellationsgericht.
Nachdem die erstinstanzlich angeordnete Sicherheitshaft am 16. März 2025 abgelaufen war, gab der Präsident des Appellationsgerichts den Parteien am 14. März 2025 Gelegenheit zur Stellungnahme bezüglich einer allfälligen Haftverlängerung und verlängerte die Haft gleichzeitig provisorisch. Am 17. März 2025 nahm das Amt für Justizvollzug Stellung und reichte dem Gericht "relevante Vollzugsakten" ein. Der Beschwerdeführer äusserte sich am 21. März 2025. Mit Verfügung vom 24. März 2025 verlängerte der Präsident des Appellationsgerichts die Sicherheitshaft sodann "bis zu einem neuen Entscheid zum Zeitpunkt des Berufungsurteils". Die Stellungnahmen und die eingereichten Vollzugsakten wurden den Parteien erst mit dieser angefochtenen Verfügung zugestellt.
3. Rügen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer beantragte beim Bundesgericht seine umgehende Haftentlassung, eventualiter unter Anordnung von Ersatzmassnahmen. Er machte im Wesentlichen geltend:
* Die Haftverlängerung sei unrechtmässig erfolgt, da sie sich nicht auf ein formelles Haftverlängerungsgesuch der Staatsanwaltschaft stütze.
* Die Haft sei zwingend zu befristen; eine unbefristete Anordnung bis zum Berufungsurteil verstosse gegen Art. 5 Ziff. 1 EMRK und die gesetzlichen Vorgaben. Er verwies auf die Rechtsprechung zur vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft (Urteil 1B_96/2021 vom 25. März 2021).
* Sein rechtliches Gehör sei verletzt worden, da ihm die vom Amt für Justizvollzug eingereichten Vollzugsakten erst nach der Haftverlängerungsverfügung zugestellt worden seien.
* Die angefochtene Verfügung sei ungenügend begründet, indem sie lediglich pauschal auf Wiederholungsgefahr verweise, ohne aktuelle Berichte zu berücksichtigen oder eine neue Risikobeurteilung vorzunehmen.
* Es fehle eine ernsthafte Prüfung mildernder Ersatzmassnahmen und eine verhältnismässige Interessenabwägung.
* Er sei seit dem 16. März 2025 illegal inhaftiert und habe Anspruch auf Genugtuung.
4. Massgebende rechtliche Grundlagen und Auslegung durch das Bundesgericht
Das Bundesgericht erläuterte zunächst die massgebenden Bestimmungen zur Sicherheitshaft im Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden (Art. 363 ff. StPO), namentlich Art. 364a und Art. 364b StPO. Diese Bestimmungen, die per 1. März 2021 in Kraft getreten sind, schaffen eine explizite gesetzliche Grundlage für solche Haftanordnungen.
- Art. 364a StPO: Regelt die Voraussetzungen für die Festnahme durch die für die Einleitung des Verfahrens zuständige Behörde (erwarteter Vollzug einer freiheitsentziehenden Sanktion und Entziehungs- oder Wiederholungsgefahr).
- Art. 364b StPO: Regelt die Sicherheitshaft während des Gerichtsverfahrens. Abs. 1 nennt die Festnahme durch die Verfahrensleitung des zuständigen Gerichts. Abs. 2 verweist für das Haftverfahren (erstinstanzlich) sinngemäss auf Art. 224 ff. StPO (Antrag an das Zwangsmassnahmengericht bzw. an die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts). Abs. 3 verweist bei vorbestehender Sicherheitshaft sinngemäss auf Art. 227 StPO (Haftverlängerung). Abs. 4 verweist im Übrigen (u.a. Haft während des Berufungsverfahrens) sinngemäss auf Art. 222 und Art. 230-233 StPO.
Das Bundesgericht klärte die Verweise in Art. 364b StPO:
* Art. 364b Abs. 3 StPO (Verweis auf Art. 227 StPO) ist einschlägig für die Haftverlängerung einer bereits nach Art. 364a StPO angeordneten Haft nach Übergabe der Zuständigkeit an das erstinstanzliche Gericht.
* Art. 364b Abs. 4 StPO (Verweis auf Art. 230 ff. StPO) ist anwendbar ab dem Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils und somit für sämtliche Haftentscheide des Berufungsgerichts. Die Art. 231-233 StPO übertragen dem Berufungsgericht verschiedene Befugnisse im Bereich der Sicherheitshaft (Widerruf Haftentlassung nach Freispruch, Haftanordnung bei neuen Tatsachen, Entscheid über Haftentlassungsgesuche). Die Befugnis zur Verlängerung einer bestehenden Sicherheitshaft ergibt sich auch aus Art. 388 Abs. 1 lit. b StPO.
5. Würdigung der Rügen durch das Bundesgericht
Das Bundesgericht prüfte die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen:
-
Erfordernis eines Haftverlängerungsgesuchs (E. 2.4.1):
- Das Bundesgericht stellte fest, dass für die Verlängerung von Sicherheitshaft nach Rechtshängigkeit beim Berufungsgericht Art. 364b Abs. 4 i.V.m. Art. 231 ff. StPO massgebend sind.
- Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung übt die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die ihr in diesen Bestimmungen verliehenen Kompetenzen von Amtes wegen (ex officio) aus, sobald das Verfahren bei ihr hängig ist (BGE 139 IV 94 E. 2.3.2; 139 IV 277 E. 2.2). Sie muss demnach von sich aus prüfen, ob eine auslaufende Haft zu verlängern ist. Dies folge auch aus Art. 388 Abs. 1 lit. b StPO.
- Schlussfolgerung: Der Auffassung des Beschwerdeführers, dass die Vorinstanz zwingend ein Haftverlängerungsgesuch der Staatsanwaltschaft oder Vollzugsbehörde benötigte, um die Haft zu verlängern, folgte das Bundesgericht nicht. Art. 227 Abs. 1 und 2 StPO (die ein Gesuch der Staatsanwaltschaft verlangen) gelangen bei Haftverlängerungen des Berufungsgerichts nicht zur Anwendung.
- Die provisorische Haftverlängerung vom 14. März 2025 war gemäss Art. 227 Abs. 4 StPO (sinngemäss angewendet) zulässig.
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Erfordernis der Befristung der Sicherheitshaft (E. 2.4.2):
- Der Beschwerdeführer argumentierte, die Haft müsse analog Art. 227 Abs. 7 StPO (Befristung auf 3, max. 6 Monate) befristet werden, insbesondere unter Verweis auf BGer 1B_96/2021.
- Das Bundesgericht hielt fest, dass die von ihm entwickelte Rechtsprechung zu Art. 231 f. StPO (gewöhnliches Berufungsverfahren) besagt, dass das Berufungsgericht die Sicherheitshaft nicht zwingend periodisch überprüfen und befristen muss, da Art. 227 Abs. 7 StPO in diesen Bestimmungen nicht referenziert wird. Die Haft kann bis zum Berufungsurteil angeordnet werden. Der Schutz der inhaftierten Person wird durch die jederzeitige Möglichkeit eines Haftentlassungsgesuchs (Art. 233 StPO) gewährleistet (BGE 139 IV 186 E. 2.2.3).
- Bezüglich des Urteils 1B_96/2021 stellte das Bundesgericht klar, dass dieses noch auf der alten Fassung der StPO beruhte, als es keine explizite Grundlage für die Sicherheitshaft in Massnahmenverfahren gab und eine analoge Anwendung von Art. 221 ff. StPO erfolgte.
- Mit den seit 1. März 2021 geltenden Art. 364a f. StPO existiert nun eine explizite gesetzliche Grundlage. Der für Haftverlängerungen im Berufungsverfahren einschlägige Art. 364b Abs. 4 StPO verweist nicht auf Art. 227 Abs. 7 StPO. Weder das Gesetz noch die Botschaft zum Gesetz sehen explizit eine Befristung im Berufungsverfahren vor.
- Schlussfolgerung: Die zu Art. 231 f. StPO entwickelte Rechtsprechung, wonach das Berufungsgericht die Sicherheitshaft nicht befristen muss, beansprucht (neu) auch im Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden Geltung. Es gebe keine Gründe, das gewöhnliche Berufungsverfahren und das Massnahmenverfahren in dieser Frage unterschiedlich zu behandeln. Die konventions- und verfassungsrechtlichen Garantien (Art. 5 Ziff. 4 EMRK, Art. 31 Abs. 3 und 4 BV) seien durch die Möglichkeit des Haftentlassungsgesuchs (Art. 364b Abs. 4 i.V.m. Art. 233 StPO) hinreichend gewahrt, zumal im Berufungsverfahren bereits ein erstinstanzlicher Entscheid vorliegt.
- Ergebnis: Die Vorinstanz hat die Sicherheitshaft nicht zu befristen und konnte sie bis zum Erlass des Berufungsurteils anordnen.
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Verletzung des rechtlichen Gehörs (E. 3.1, 3.2, 3.3):
- Der Beschwerdeführer rügte, dass ihm die vom Amt für Justizvollzug eingereichten "relevanten Vollzugsakten" erst zusammen mit der angefochtenen Verfügung vom 24. März 2025 zugestellt wurden, ohne dass er vorgängig die Möglichkeit gehabt hätte, dazu Stellung zu nehmen.
- Das Bundesgericht bekräftigte den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 107 StPO), der insbesondere das Recht auf Akteneinsicht und Äusserung vor Erlass eines relevanten Entscheids umfasst. Davon umfasst ist das Replikrecht, d.h. das Recht, von Stellungnahmen der Gegenpartei Kenntnis zu erhalten und sich dazu zu äussern, bevor das Gericht entscheidet. Dieses Recht gilt auch im Haftprüfungsverfahren.
- Anwendung im vorliegenden Fall: Die Vorinstanz gab den Parteien zwar generell Gelegenheit zur Stellungnahme. Das Amt für Justizvollzug reichte jedoch im Rahmen seiner Stellungnahme zusätzliche Vollzugsakten ein (E. 3.3.1). Diese Unterlagen wurden dem Beschwerdeführer nicht vorgängig zugestellt, sondern erst zusammen mit dem Entscheid.
- Schlussfolgerung: Der Beschwerdeführer hatte vor Erlass der angefochtenen Verfügung keine vollständige Einsicht in das der Vorinstanz vorliegende Aktenmaterial und konnte sich dazu nicht äussern. Dies verletzte sein Replikrecht und damit seinen Anspruch auf rechtliches Gehör.
- Heilung der Gehörsverletzung (E. 3.3.2): Da die materiellen Haftvoraussetzungen (Wiederholungsgefahr, Verhältnismässigkeit) Sachverhaltsfragen betreffen und das Bundesgericht grundsätzlich an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden ist (beschränkte Kognition gemäss Art. 105 Abs. 1, 97 Abs. 1 BGG), ist eine Heilung der Gehörsverletzung im bundesgerichtlichen Verfahren ausgeschlossen.
- Konsequenz: Die Gehörsverletzung ist formeller Natur und führt ungeachtet der materiellen Begründetheit zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids und zur Rückweisung der Sache an die Vorinstanz, damit diese unter Wahrung des rechtlichen Gehörs einen neuen Entscheid fällt.
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Weitere materielle Rügen (E. 3.3.2):
- Angesichts der festgestellten Gehörsverletzung und der notwendigen Rückweisung musste das Bundesgericht die weiteren Rügen des Beschwerdeführers (unzureichende Begründung der Wiederholungsgefahr, fehlende Prüfung von Ersatzmassnahmen, mangelnde Verhältnismässigkeit) nicht materiell prüfen.
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Haftentlassung durch das Bundesgericht (E. 3.3.2):
- Eine sofortige Haftentlassung durch das Bundesgericht kam nicht in Betracht, da eine inhaltliche Prüfung der Beschwerde aufgrund des formellen Mangels (Gehörsverletzung) ausgeschlossen war.
6. Fazit des Bundesgerichts
Das Bundesgericht hiess die Beschwerde teilweise gut, hob die angefochtene Verfügung des Appellationsgerichts wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs auf und wies die Sache zur Neubeurteilung unter Wahrung des Replikrechts an die Vorinstanz zurück. Im Übrigen (namentlich bezüglich der Fragen des Gesuchs-Erfordernisses und der Befristungspflicht) wies es die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer seit dem 16. März 2025 illegal inhaftiert sei, sowie die Genugtuungsanträge wurden nicht behandelt, da die Haftanordnung zwar formell fehlerhaft zustande kam, aber die materiellen Voraussetzungen der Haft und deren Verhältnismässigkeit vom Bundesgericht nicht abschliessend beurteilt werden konnten und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wurde.
7. Kosten und Entschädigung
Aufgrund des teilweisen Obsiegens im bundesgerichtlichen Verfahren wurden keine Gerichtskosten erhoben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde, soweit es nicht gegenstandslos wurde, gutgeheissen und der amtliche Rechtsvertreter aus der Bundesgerichtskasse entschädigt. Der Kanton Basel-Stadt wurde zudem zu einer anteilsmässigen Parteientschädigung an den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers verpflichtet.
8. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Die Sicherheitshaft im Berufungsverfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden richtet sich nach Art. 364b Abs. 4 i.V.m. Art. 231 ff. StPO.
- Das Berufungsgericht handelt bei der Verlängerung der Sicherheitshaft ex officio und benötigt kein formelles Haftverlängerungsgesuch der Staatsanwaltschaft oder Vollzugsbehörde.
- Das Berufungsgericht ist nicht verpflichtet, die Sicherheitshaft im Berufungsverfahren periodisch zu befristen; sie kann bis zum Erlass des Berufungsurteils angeordnet werden. Der Schutz der inhaftierten Person wird durch das jederzeitige Haftentlassungsgesuch gewahrt.
- Das rechtliche Gehör der inhaftierten Person ist verletzt, wenn ihr im Haftverlängerungsverfahren relevante Unterlagen, die von der Gegenpartei eingereicht wurden (hier: Vollzugsakten), nicht vor Erlass des Haftentscheids zur Kenntnis und Stellungnahme zugestellt werden.
- Eine solche Gehörsverletzung kann aufgrund der beschränkten Kognition des Bundesgerichts in Bezug auf Sachverhaltsfragen nicht geheilt werden.
- Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt zur Aufhebung des angefochtenen Haftentscheids und zur Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung nach Gewährung des rechtlichen Gehörs.
- Materielle Rügen (Wiederholungsgefahr, Verhältnismässigkeit, Begründung) wurden aufgrund des formellen Mangels nicht abschliessend geprüft.
- Eine sofortige Haftentlassung durch das Bundesgericht erfolgte nicht, da die materielle Prüfung ausgeschlossen war.