Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 2C_699/2023 des Schweizerischen Bundesgerichts:
1. Einleitung und Gegenstand
Das Urteil des Bundesgerichts (II. Öffentlich-rechtliche Abteilung) vom 19. Mai 2025 (Az. 2C_699/2023) betrifft die Anfechtung der Nichterneuerung bzw. des Widerrufs einer Aufenthaltsbewilligung UE/EFTA (EU/EFTA) für einen italienischen Staatsangehörigen (Rekurrent) im Kanton Tessin. Die Vorinstanzen (Dipartimento delle istituzioni, Sezione della popolazione und Consiglio di Stato sowie Tribunale amministrativo des Kantons Tessin) hatten die Bewilligung widerrufen, da der Rekurrent nach Verlust seiner früheren Arbeitnehmerstellung und Bezug von Arbeitslosenentschädigung Sozialhilfeleistungen bezog und die nachfolgend aufgenommene Tätigkeit im Rahmen einer Berufslehre nicht als ausreichende Erwerbstätigkeit im Sinne des Freizügigkeitsabkommens (FZA) qualifizierten bzw. er die Voraussetzungen für einen Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit nicht erfüllte.
2. Sachverhalt (relevante Punkte)
Der italienische Staatsangehörige A.__, der mehrfach und letztmals seit Juni 2017 in der Schweiz wohnhaft war, erhielt am 17. Oktober 2017 eine UE/EFTA-Aufenthaltsbewilligung gestützt auf eine unselbstständige Erwerbstätigkeit. Nach mehrmaligem Arbeitsplatzverlust erschöpfte er am 24. Juli 2019 seinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Seit September 2019 bezieht er Sozialhilfeleistungen, deren Umfang bis Ende Oktober 2023 über CHF 107'000.– erreichte. Am 7. Mai 2020 schloss er einen Lehrvertrag als Elektroinstallateur für eine vierjährige Ausbildung ab, die am 1. September 2020 begann. Die Vergütung war gestaffelt (CHF 550.– im 1. Jahr, CHF 750.– im 2., CHF 950.– im 3., CHF 1'200.– im 4. Jahr, brutto, 13 Gehälter).
Die kantonalen Behörden widerriefen die Aufenthaltsbewilligung am 26. August 2020. Sie begründeten dies damit, dass der Rekurrent nicht mehr als Arbeitnehmer im Sinne des FZA gelte und nicht über ausreichende finanzielle Mittel für seinen Lebensunterhalt verfüge. Die Vorinstanzen bestätigten diese Verfügung.
3. Anträge des Rekurrenten
Der Rekurrent beantragte vor Bundesgericht die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Erneuerung seiner Aufenthaltsbewilligung UE/EFTA. Er machte im Wesentlichen geltend, dass er gestützt auf den Lehrvertrag als Arbeitnehmer im Sinne des FZA zu betrachten sei, oder alternativ ein Aufenthaltsrecht nach Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehe.
4. Rechtsgrundlagen und Massstäbe des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüfte das Vorliegen eines Aufenthaltsrechts primär gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU (FZA) und subsidiär gestützt auf Art. 8 EMRK.
- Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens): Diese Bestimmung gewährt an sich kein Aufenthaltsrecht, kann aber unter Umständen einer unverhältnismässigen Beschränkung des Rechts auf Privatleben entgegenstehen und ein Recht auf Verbleib in der Schweiz begründen (Consid. 4.1). Ein solches Recht wird in der Regel erst nach rund zehn Jahren legalen Aufenthalts angenommen. Bei besonders erfolgreicher Integration kann dies auch früher der Fall sein (DTF 147 I 268, 149 I 207).
- FZA (Art. 4 FZA i.V.m. Anhang I Art. 6 FZA - Arbeitnehmer): Ein Arbeitnehmer im Sinne des FZA, der eine Anstellung von mindestens einem Jahr Dauer hat, erhält eine Aufenthaltskarte von mindestens fünf Jahren, die verlängerbar ist (Anhang I Art. 6 Abs. 1 FZA).
- Der Begriff des Arbeitnehmers ist ein autonomer Begriff des Europarechts, der weit auszulegen ist, während Ausnahmen restriktiv zu interpretieren sind. Als Arbeitnehmer gilt, wer während einer bestimmten Dauer für einen anderen und unter dessen Anleitung Leistungen erbringt, wofür er eine Gegenleistung (Entgelt) erhält. Die Tätigkeit muss real und tatsächlich sein, qualitativ und quantitativ (DTF 141 II 1). Eine marginale oder akzessorische Tätigkeit genügt nicht (Consid. 5.1.1). Niedriges Einkommen oder wenige Arbeitsstunden können ein Hinweis auf eine marginale Tätigkeit sein (DTF 131 II 339).
- Sogenannte "Working Poor" (Personen, die trotz realer Tätigkeit mit ihrem Einkommen ihren Lebensunterhalt nicht decken können) können grundsätzlich auch Arbeitnehmer sein (DTF 131 II 339). Allerdings wird insbesondere in der Anfangsphase des Aufenthalts vorausgesetzt, dass die Person prinzipiell auch über die Mittel zu ihrer Existenzsicherung verfügt (DTF 131 II 339).
- Der Arbeitnehmerstatus kann verloren gehen, insbesondere bei freiwilliger Arbeitslosigkeit, fehlender realistischer Beschäftigungsperspektive innert angemessener Frist oder missbräuchlichem Verhalten (Anhang I Art. 6 Abs. 6 FZA). Nach 18 Monaten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit und Erschöpfung des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung wird typischerweise keine realistische Beschäftigungsperspektive mehr angenommen (DTF 147 II 1).
- FZA (Art. 6 FZA i.V.m. Anhang I Art. 24 FZA - Personen ohne Erwerbstätigkeit): Bürger einer Vertragspartei, die keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben (z.B. Studierende), können eine Aufenthaltsbewilligung erhalten, wenn sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um nicht auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, und über eine umfassende Krankenversicherung (Anhang I Art. 24 Abs. 4 FZA). Dieses Regime ist subsidiär zu anderen Aufenthaltsrechten nach FZA.
5. Hauptargumentation des Bundesgerichts
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab und bestätigte im Ergebnis die Widerrufsverfügung der kantonalen Behörden, teilweise jedoch mit abweichender Begründung:
- Art. 8 EMRK: Das Bundesgericht folgte der Vorinstanz, dass die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht gestützt auf Art. 8 EMRK nicht erfüllt seien. Der Rekurrent verfügte zum Zeitpunkt des Widerrufs der Bewilligung (August 2020) lediglich über einen legalen Aufenthalt von rund drei Jahren (seit Oktober 2017). Dies reicht bei Weitem nicht an die erforderlichen zehn Jahre heran. Es wurden auch keine Gründe für eine besonders erfolgreiche Integration vorgebracht, die eine frühere Anwendung von Art. 8 EMRK rechtfertigen könnten. Die erhebliche Sozialhilfeabhängigkeit spricht zudem gegen eine solche Annahme. Da bereits die Voraussetzungen für Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht erfüllt sind, entfällt auch die Prüfung der Verhältnismässigkeit gemäss Art. 8 Abs. 2 EMRK (Consid. 4).
- FZA Arbeitnehmerstatus (Art. 4 i.V.m. Anhang I Art. 6):
- Das Bundesgericht stellte fest, dass der Rekurrent nach Erschöpfung seines Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung im Juli 2019 und 18 Monaten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit seinen ursprünglichen Arbeitnehmerstatus verloren hatte (Consid. 6.1, gestützt auf Consid. 5.2).
- Bewertung der Berufslehre: Das Gericht korrigierte die Vorinstanz insofern, als der blosse Umstand, dass ein Lehrvertrag einen primär ausbildungsbezogenen Charakter hat, nicht per se ausschliesst, dass der Lernende auch als Arbeitnehmer im Sinne des FZA gilt. Gestützt auf Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, früher EuGHE, z.B. C-188/00 Kurz) und auch gemäss schweizerischem Recht (Art. 1a Abs. 2 VZAE i.V.m. BBG) gelten Lernende grundsätzlich als Personen, die eine Erwerbstätigkeit ausüben (Consid. 7.1). Die Qualifikation als Arbeitnehmer hängt auch hier von der Ausübung einer realen und tatsächlichen Tätigkeit ab, unabhängig davon, ob die Produktivität oder Vergütung im Vergleich zu ausgebildeten Arbeitnehmern geringer ist (Consid. 7.1).
- Anwendung auf den Fall: Trotz der potenziellen Qualifikation einer Lehre als Erwerbstätigkeit gelangte das Bundesgericht im konkreten Fall zum Schluss, dass der Arbeitnehmerstatus im Sinne des FZA nicht neu begründet wurde (Consid. 7.2).
- Die Lehrlingslöhne (CHF 550.– bis 1'200.– brutto/Monat) wurden als zu gering erachtet, um eine reale und tatsächliche Erwerbstätigkeit im Sinne der FZA-Rechtsprechung zu begründen, insbesondere im Licht der hohen und anhaltenden Sozialhilfeabhängigkeit des Rekurrenten seit September 2019. Das Gericht verwies auf ähnliche Fälle mit niedrigem Einkommen, in denen der Arbeitnehmerstatus verneint wurde (Consid. 7.2.1, 7.2.2, mit Verweis auf neuere Urteile wie 2C_16/2023 und 2C_945/2021).
- Das Gericht betonte, dass das FZA ein spezifisches Regime für Personen ohne Erwerbstätigkeit (Art. 6 i.V.m. Anhang I Art. 24 FZA) vorsieht, das gerade für Studierende und Lernende anwendbar ist, deren primärer Zweck die Ausbildung ist, und das ausreichende finanzielle Mittel voraussetzt. Würde man den Arbeitnehmerstatus für Lernende mit sehr geringem Einkommen und Sozialhilfeabhängigkeit zu einfach zulassen, würde dieses subsidiäre Regime unterlaufen (Consid. 7.2.3). Zudem würde dies eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber Lernenden in rein schulischer Ausbildung schaffen, die finanzielle Unabhängigkeit nachweisen müssen (Consid. 7.2.3).
- Das Gericht hob hervor, dass es hier um die Neuerlangung des Status ging. In der Anfangsphase des Aufenthalts wird grundsätzlich erwartet, dass die Person für ihren Lebensunterhalt aufkommen kann. Die erhebliche Sozialhilfeabhängigkeit des Rekurrenten stand dem entgegen (Consid. 7.2.4, gestützt auf DTF 131 II 339).
- Schlussfolgerung zum Arbeitnehmerstatus: Da die Berufslehre angesichts des geringen Einkommens und der massiven Sozialhilfeabhängigkeit nicht als ausreichende reale und tatsächliche Erwerbstätigkeit zur Begründung eines FZA-Arbeitnehmerstatus qualifiziert, wurde die Beschwerde auch in diesem Punkt abgewiesen (Consid. 7.3).
- Art. 9 Anhang I FZA (Gleichbehandlung bei sozialen Vergünstigungen): Das Argument, dass die Sozialhilfeabhängigkeit den Aufenthalt nicht rechtfertige, da Arbeitnehmer Anspruch auf dieselben sozialen Vorteile wie Inländer hätten, wurde nicht weiter geprüft, da der Rekurrent gerade nicht als Arbeitnehmer im Sinne des FZA galt (Consid. 7.3.1).
- FZA Regime für Personen ohne Erwerbstätigkeit (Art. 6 i.V.m. Anhang I Art. 24): Diese Möglichkeit wurde a priori ausgeschlossen, da der Rekurrent seit Langem Sozialhilfe bezog. Gerade dieses Regime setzt aber ausreichende finanzielle Mittel voraus, um nicht auf Sozialhilfe angewiesen zu sein (Consid. 7.3.2).
6. Ergebnis
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab. Das Urteil der Vorinstanz wurde im Ergebnis bestätigt, wobei das Bundesgericht die Begründung hinsichtlich der Qualifikation der Berufslehre unter dem FZA präzisierte und teilweise korrigierte, jedoch zum gleichen negativen Ergebnis für den Rekurrenten gelangte. Die beantragte Prozesskostenbefreiung für das bundesgerichtliche Verfahren wurde gewährt, da die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos erschien.
7. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht bestätigte den Widerruf der EU/EFTA-Aufenthaltsbewilligung eines italienischen Staatsangehörigen. Es lehnte ein Aufenthaltsrecht sowohl nach Art. 8 EMRK (ungenügender legaler Aufenthaltszeitraum und keine besondere Integration) als auch nach dem Freizügigkeitsabkommen FZA ab. Obwohl eine Berufslehre grundsätzlich eine Erwerbstätigkeit im Sinne des FZA darstellen kann, qualifizierte die konkrete Tätigkeit des Rekurrenten während der Lehre aufgrund des sehr geringen Lohns und der massiven, überwiegenen Sozialhilfeabhängigkeit nicht als ausreichende "reale und tatsächliche" Erwerbstätigkeit zur Begründung oder Neuerlangung des Arbeitnehmerstatus. Die Lehre fiel somit eher unter das Regime für Personen ohne Erwerbstätigkeit (Lernende), das aber ausreichende finanzielle Mittel voraussetzt, welche der Rekurrent offensichtlich nicht besass.